von Bruno Lezzi, 20. März 2008, Neue Zürcher Zeitung
Eine neue Führungsvorschrift der US Army basiert auf Erfahrungen aus dem Irak und Afghanistan. Operationen zur Stabilisierung von Krisenregionen werden Kampfeinsätzen praktisch gleichgestellt. Einflüsse britischen militärischen Denkens sind unverkennbar.
In den in regelmässigen Zeitabständen neu formulierten Reglementen der US Army für die Operationsführung spiegelt sich nicht nur die veränderte strategische Lage, sondern auch die moderne militärtechnologische Entwicklung. Dies zeigt das erst kürzlich erschienene Field Manual FM 3-0 «Operations», das die Einsatzdoktrin des amerikanischen Heeres mit Blick auf eine «unsichere Zukunft» festlegt, wie die dafür verantwortlichen Generäle anlässlich von Präsentationen erklärt und in Artikeln geschrieben haben. Eingeflossen sind vorab Erfahrungen aus den Konflikten im Irak und in Afghanistan. Deshalb finden sich in diesem Handbuch auch Überlegungen, wie sie in der Führungsvorschrift FM 3-24 «Counterinsurgency» zu lesen sind.
Koordinatensystem für die Führung
Konzentrierten sich die zur Zeit des Kalten Krieges publizierten Reglemente (damals FM 100-5) noch vorab auf die klassische Kampfführung gegen einen mechanisierten Gegner, ist das umfangreiche neue Handbuch hauptsächlich auf die Bewältigung von Krisenlagen ausgerichtet.
Und standen früher Anleitungen für Planung und Einsatz in einem Krieg in Europa mit weitgehend prognostizierbaren Szenarien im Zentrum, so handelt es sich heute vorwiegend um die gedankliche Durchdringung von Konflikten, deren Charakter nur schwer zu fassen und deren Dauer unabsehbar ist.Wie Generalleutnant William Caldwell, Kommandant des Combined Arms Center der US Army, erläuterte, sollen den Kadern auf hohen und mittleren Führungsebenen nicht Rezepte vermittelt werden. Vielmehr gehe es darum, Denk- und Handlungsmuster zu zeigen, mit denen chaotische, von Friktionen belastete Lagen gemeistert werden könnten, meinte der General.
Man wolle die Truppe lehren, «kritisch und kreativ» zu denken. Es handelt sich also nicht um Checklisten, sondern gleichsam um ein geistiges Koordinatensystem für die Führung.
(...)
Die Komplexität moderner Konflikte verlange, so wird festgehalten, dass die Streitkräfte in Zusammenarbeit mit zivilen Institutionen, das heisst: mit Diplomatie, Wirtschaft und Polizei, handelten. Mit militärischen Mitteln und Verfahren allein seien solche Aufträge nicht zu erfüllen.
So gesehen müssten vor allem Truppenführer die Fähigkeit aufweisen, sich rasch an verschiedenartige Umweltbedingungen anpassen zu können. Auch der Sinn für die Leistungen der jeweiligen zivilen Organisationen und nicht zuletzt das Verständnis für die jeweiligen kulturellen Rahmenbedingungen müssten geschärft werden.Es erstaunt deshalb nicht, dass der in Europa üblichen «Auftragstaktik», der Auftragserfüllung in einem weit abgesteckten Rahmen aufgrund einer klaren Absicht übergeordneter Kommandostellen, ein hoher Stellenwert eingeräumt wird.
Wie jede militärische Führungsvorschrift enthält auch das Field Manual FM 3-0 eine Fülle von Anweisungen für die Gestaltung von Entscheidungs-, Führungs- und Planungsprozessen. In diesem Kontext wird der Nutzen gemeinsamer Lagebilder, die dank elektronischen Einrichtungen auf allen entscheidenden Kommandostufen praktisch in Echtzeit zur Verfügung stehen, zwar positiv bewertet; es wird aber davon Abstand genommen, die vernetzte Kriegführung als allein selig machendes Konzept in den Mittelpunkt zu stellen.
Krieg inmitten der Bevölkerung
Entscheidend ist in erster Linie jener Abschnitt – quasi der Kern des ganzen Dokumentes –, der sich mit modernen Operationen befasst. Diese werden als militärische Umsetzung strategischer Entscheide verstanden; von Militärstrategie ist nicht die Rede. Die amerikanischen Landstreitkräfte stellen die Doktrin der «Full-Spectrum-Operations» ins Zentrum. Was ist darunter zu verstehen? In Anlehnung an Überlegungen, die Generäle des US Marine Corps wie Charles Krulak und James Mattis oder Heereskommandanten wie David Petraeus und Peter Chiarelli in Fachartikeln angestellt haben, geht man davon aus, dass in einem Einsatzdispositiv gleichzeitig sowohl offensive und defensive Operationen als auch stabilisierende und unterstützende Aktionen durchzuführen sind. Die praktische Gleichstellung von Kampfaufträgen mit stabilisierenden Operationen wird von General William Wallace, Befehlshaber des Training and Doctrine Command, als «revolutionärer» Ansatz bezeichnet.
Gerade in diesem Kapitel werden auch die Einflüsse britischer Offiziere spürbar. In Anlehnung an das Buch «The Utility of Force» des früheren Generals und stellvertretenden Oberkommandierenden der Nato, Rupert Smith, wird auch im neuen amerikanischen Reglement davon gesprochen, dass moderne Kriege inmitten der Bevölkerung («among the people») stattfänden, was besondere Vorsicht in der Wahl der militärischen Mittel erfordere. Unter diesem Vorzeichen wird unter anderem darauf hingewiesen, dass nichtletale Waffen künftig eine bedeutend grössere Rolle spielten, als dies früher der Fall gewesen sei. Auch der Einhaltung des Kriegsvölkerrechts und der spezifischen Einsatzregeln sei stärker als bisher Nachachtung zu verschaffen. In ihren Erläuterungen des Dokumentinhalts räumten Generäle ein, dass solchen Blickpunkten bei der Operationsführung früher zu wenig Gewicht zugemessen worden sei und man sich allzu sehr auf den eigentlichen Kampf konzentriert, nicht aber die darauffolgenden Phasen genügend in Rechnung gestellt habe. Die Amerikaner sind sich bewusst, dass mit massivem Einsatz von Waffengewalt Gefechte zwar gewonnen, die Unterstützung durch die lokale Bevölkerung aber verloren gehen könnte. Ähnlich argumentiert etwa auch der britische Generalleutnant John Kiszely, der als stellvertretender Befehlshaber der multinationalen Streitkräfte im Irak Dienst leistete.
Vorteile modularer StrukturenIn diesem Zusammenhang ist vor allem auch das Kapitel von Interesse, in dem die Informationskriegführung umrissen wird, deren Bedeutung für die Beeinflussung von Gegnern und Bevölkerung als sehr hoch eingestuft wird. General Caldwell unterstrich aber, dass dies nicht heissen könne, die Medien zu «belügen» und diese als Elemente des psychologischen Kampfes zu missbrauchen.
Und schliesslich verdient ebenfalls ein Anhang des Dokuments Beachtung, in welchem die modulare Struktur der Army beschrieben wird. Gerade die neuen operativen Gegebenheiten verlangten die Bildung von «massgeschneiderten» Einsatzverbänden, wird festgehalten. (...) Die jetzigen Brigaden verfügen bezüglich Feuerunterstützung und Logistik nämlich über eine grössere Autonomie, als dies in der früheren Organisationsform der Fall gewesen ist. Dies wirkt sich nicht zuletzt auch dann günstig aus, wenn es darum geht, Truppen auf dem Luftweg in ihre Operationsräume zu verschieben.
Weiter führende Literatur:
Miles Kosmopolitis - Brevier für den kritisch urteilenden Soldaten
Miles Kosmopolitis (2)
Militärische Führungsausbildung – Chance zum Paradigmenwechsel
Strategisches Denken - Ein Abriss
Operative Kunst - die in der Schweiz wenig bekannte Ebene der Kriegführung
Vom operativen Zusammenhang im Umfeld der Gewalt unterhalb der Kriegsschwelle
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