Sonntag, 28. Januar 2007

Survival of the Fittest?!?

Der neurobiologische Ansatz oder: Eine kritische Betrachtung des soziobiologischen Ansatzes

Eine augenöffnende Kritik an die Soziobiologie und deren Fehlannahmen, dass die zentrale Antriebe lebender Systeme darauf ausgerichtet seien, sich maximal zu verbreiten und gegeneinander zu kämpfen, liefert Bauer mit seinem neurobiologischen Ansatz und dessen Folgerungen, dass ohne Kooperation die Evolution hin zum Komplexen gar nicht zu erklären und dass der Mensch von Natur aus auf Kooperation getrimmt sei.

Begriffe wie "Konkurrenz" und "Überlebenskampf" sind menschliche Konstruktionen, die aus dem Wirtschaftsleben kommen und von aussen an die Biologie herangetragen worden sind. Es ist an der Zeit einige Annahmen des Darwinismus und der Soziobiologie in Frage zu stellen.[1]

Darwins Abstammungslehre steht aufgrund einer überwältigenden Ansammlung von entsprechenden Funden und Beobachtungen ausser Frage. Die Kritik betrifft einen ganz anderen Punkt, nämlich ob die Evolution tatsächlich nach dem Prinzip des Kampfes um Dasein voranschreitet, ob Gene "egoistisch" sind und ob der Mensch, wie Darwin es formulierte, ein Wesen ist, welches dem Kampf ausgesetzt bleiben muss.[2]

Darwins Modell übersieht die grundlegende Bedeutung des am Anfang aller Biologie stehenden Phänomens der Kooperation.[3]

Die soziobiologische Vorstellung eines "egoistischen Gens" (...) konnte nur von Personen entwickelt werden, die niemals selbst direkt an Genen gearbeitet haben. Das Geheimnis der Vermehrung von Lebewesen ist die Verdoppelung aus sich slebst heraus ist nicht möglich, sie ist ein in höchstem Masse kooperativer Prozess. Die Replikation (Selbstkopie) von DNA ist undenkbar ohne Helfermoleküle, die mit der Erbsubstanz eine kooperiende Einheit bilden.[4]

[Der Mensch] ist - aus neurobiologischer Sicht - auf soziale Resonanz und Kooperation angelegtes Wesen. Kern aller menschlichen Motivation ist es, zwischenmenschliche Anerkennung, Wertschätzung, Zuwendung oder Zuneigung zu finden und zu geben.[5]


Aggression steht - ob direkt oder indirekt - immer in funktionalem Zusammenhang mit dem Grundbedürfnis des Menschen nach Beziehung und ist diesem Bedürfnis unter- oder nachgeordnet.[6]

Aggression ist also kein Selbstweck, sondern steht immer im Dienste des Strebens nach Anerkennung, Beziehung, Kooperation und sozialer Zugehörigkeit.[7]

Der Zweck der Aggression, die gemeinschaftlich ausgeübt wird, besteht darin, Gemeinschaft eben durch gemeinsamen Kampf herzustellen. Dieser Zusammenhang zwischen Bindung und Aggression betrifft nicht nur Gewalt, wie sie von Jugendbanden ausgeübt wird, sondern auch Kampf- oder Kriegskameradschaften. Die von vielen Soldaten zeitlebens wiedergegebenen, erlittenes Leid und eigene Traumatisierungen verklärenden Erinnerungen sind Ausdruck eines gerade unter Todesgefahr manchmal fast ekstatischen Gemeinschaftserlebens.[8]

Das "Gedächnis" der Gene: Die Epigenetik

Gene haben die Möglichkeit, Erfahrungen des Organismus in seiner Umwelt abzuspeichern. Dies kann eine längerfristige Änderung der Arbeitsweise eines Gens bewirken.[9]

Die Veränderung an der genetischen "Verpackung", welche die Funktion eines Gens verändert, ohne dabei Einfluss auf den "Text" des Gens zu nehmen, also ohne die DNA-Sequenz zu verändern, werden als epigenetisch bezeichnet. Für die Funktion der Gene hat die "biochemische Verpackung", also die Epigenetik, nach inzwischen gesicherten Erkenntnissen eine mindestens ebenso weit reichende Bedeutung wie der eigentliche "Text" des Gens. Epigenetische Strukturen wiederum werden in hehem Masse durch Umwelterfahrungen geprägt. Veränderungen an epigenetischen Strukturen können ein Gen bremsen oder völlig ausschalten, sie können es aber auch aktivieren. (...) Ursachen epigenetischer Veränderungen sind in der Regel chemische oder biochemische Substanzen, und zwar sowohl solche, die dem Körper selbst entstammen, als auch von ausserhalb des Körpers kommende Einflüsse (...). (...) auch psychische Erfahrungen bewirken epigenetische Veränderungen, indem sie vom Gehirn in biologische Signale verwandelt werden.[10]

Intensive, prägende Erfarhungen, die in der frühen Zeit des Lebens in das epigenetische Muster eingehen, hinterlassen ihre Spuren unabhängig davon, ob die Erfahrung mit genetisch verwandten oder nicht verwandten Bezugspersnonen gemacht wurden. Daraus folgt, dass wir ausserhalb des eigentlichen Erbgangs nachhaltig biologisch geprägt werden können. (...). Gene und Umwelt, Beziehungserfahrung und körperliche Biologie bilden eine Einheit, soe sind Teil eines kooperativen Projekts.[11]


Wenn es um Verhalten geht, haben biologische Erfahrungen - vor allem solche in der Lernphase des Lebens - (...) eine stärkere Wirkung als die genetische Abstammung. (...). Eine ganze Serie von jüngeren Studien (...) zeigt, dass dort, wo Aggressivität im Sinne eines durchgehenden Verhaltensmusters auftritt, neben selbst erlittenen Gewalterfahrungen insbesondere auch Lernprozesse - und hier neuerdings auch der Konsum von Gewaltvideos und so genannten Killerspielen (Egoshooters) - eine entscheidende Rolle spielen.[12]



[1]Bauer (2006), S. 18-19.
[2]Bauer (2006), S. 20.
[3]Bauer (2006), S. 128.
[4]Bauer (2006), S. 129.
[5]Bauer (2006), S. 21.
[6]Bauer (2006), S. 87.
[7]Bauer (2006), S. 83.
[8]Bauer (2006), S. 85.
[9]Bauer (2006), S. 161.
[10]Bauer (2006), S. 163-164.
[11]Bauer (2006), S. 165.
[12]Bauer (2006), S. 83.

Quellen und weiterführende Literatur/Links:

Bauer, J (2006), Prinzip Menschlichkeit: Warum wir von Natur aus kooperieren (Hamburg: Hoffmann und Campe).

Abegglen, C.M.V. (2006), MILES KOSMOPOLITIS - Brevier für den kritisch urteilenden Soldaten http://www.military.ch/abegglen/papers/miles_kosmopolitis.pdf

Clash of Morals?

Sind Glauben, Religion und Kirchen Grundfeste moralischen Verhaltens? Oder wohnt im Menschen moralisches Verhalten naturgegeben inne? Ist moralisch richtiges Handeln im Menschen genetisch verankert?

«Um Kriege zu verhindern, müssten wir am richtigen Genschalter drehen»

Evolutionsbiologe Marc Hauser über angeborene Moral, Fremdenhass und herrenlose Waggons
von HUBERTUS BREUER, Sonntagszeitung, 28.01.2007

Herr Hauser, das 20. Jahrhundert war die blutigste Epoche der Menschheit. Aber Sie behaupten, dass uns moralische Regeln angeboren sind. Kommen Ihnen da nicht manchmal Zweifel?
Nein. Es ist naiv, zu behaupten, dass Moral allein zu einer besseren Welt führen müsse. In unserer Stammesgeschichte diente Moral dem Zweck, das soziale Leben einer Gruppe zu regeln. Weltfriede war nie das Ziel.

Aber warum sollte Moral angeboren sein? Wenn mir meine Eltern erklären, ich solle meine Schokolade teilen oder nicht lügen, dann stammt das doch aus meiner Umwelt.
Sicher. Aber wir haben moralische Regeln entdeckt, deren sich die Menschen nicht bewusst sind. Mein Vorschlag lautet, dass wir moralischen Sinn ähnlich wie Sprache erwerben. Nach Noam Chomsky gibt es eine im Hirn verankerte Universalgrammatik, aus der Kinder je nach Umwelteinfluss ihre Muttersprache entwickeln. Bei der Moral ist es offenbar ähnlich. Es gibt auch hier eine Art Tiefengrammatik, die hilft, uns die jeweilige Moral unseres sozialen Umfelds strukturiert anzueignen.

Wir werden mit einem moralischen Kompass geboren?
Genau. Wir können meist ohne gross zu überlegen sagen, ob eine Handlung gut oder schlecht ist. Wir Forscher müssen nun die Regeln finden, die diese primären ethischen Intuitionen leiten.

Wie stellen Sie das an?
Wir betrachten moralische Dilemmas. Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Sie stehen neben einem Bahngleis an einer Weiche. Ausser Kontrolle geraten, rast ein Waggon heran. Auf der links abzweigenden Spur macht sich eine Gruppe von fünf Eisenbahnarbeitern zu schaffen, rechts ein einziger. Unternehmen sie nichts, schwenkt der Waggon links ab und tötet die fünf Männer. Indem sie den Weichenhebel umlegen, können sie die fünf retten und nur einen opfern. Die meisten Menschen antworten, sie würden den Waggon umleiten. In einem anderen Szenario können sie einen schweren Mann von einer Brücke auf die Gleise stossen, um den Waggon aufzuhalten. Diesmal geben fast alle an, das sei unvertretbar, obwohl das Ergebnis doch in beiden Fällen das Gleiche wäre.

Lässt sich daraus eine moralische Regel ableiten?
Ja. Wer die Weiche umstellt, sieht voraus, dass der einzelne Arbeiter sterben wird, beabsichtigt das aber nicht. Wer den Mann von einer Brücke stösst, beabsichtigt dagegen, ihn zu töten, um die anderen zu retten. Wir unterscheiden also zwischen beabsichtigtem und vorhergesehenem Schaden.

(...)

Haben Sie schon weitere Regeln entdeckt?
Natürlich. So halten Menschen Schaden, der durch Körperkontakt entsteht, für verwerflicher als den, bei dem es zu keiner Berührung kommt. Und eine Handlung mit negativen Folgen wirkt schlimmer als die Unterlassung einer Handlung mit demselben Ergebnis.

Können Sie konkreter werden?
Ein gutes Beispiel ist die aktive und passive Sterbehilfe. In beiden Fällen ändert sich das Resultat nicht. In den Niederlanden und Belgien hat der Gesetzgeber deshalb die Unterscheidung aufgegeben. Dennoch erkennen die meisten Menschen hier intuitiv noch einen moralischen Unterschied. Das ergibt evolutionär auch Sinn: Wenn jemand eine Handlung unterlässt, können wir nicht sicher sein, ob er es absichtlich getan hat. Deshalb zögern wir auch, sie moralisch eindeutig zu bewerten.

(...)

Warum entstehen in den Kulturen so unterschiedliche Wertvorstellungen, wenn doch alle Menschen dieselben moralischen Grundlagen besitzen?
Die Regeln und Imperative sind universell, sie stecken im Erbgut. Ähnlich wie bei Sprachen, entstehen auf dieser Grundlage jedoch unterschiedliche Wertesysteme, indem sie unterschiedliche Akzente setzen. Alle Gesellschaften glauben zwar, dass man nicht töten soll. Aber überall gibt es Ausnahmen. So gelten Ehrenmorde in westlichen Demokratien als verabscheuungswürdig. In anderen Gesellschaften sieht man sie dagegen unter Umständen für geradezu gefordert an. Eskimos halten Kindsmord für zulässig, wenn die Ressourcen knapp sind; wir lehnen das ab. Wer in Notwehr tötet, bleibt je nach Hergang in der Regel straffrei. Und in den USA existiert noch die Todesstrafe.

Töten ist aber nicht die Ausnahme, sondern die Regel, wenn es zum Krieg kommt.
Klar, denn ein Faktor schränkt diese Universalien stark ein: die Gruppenidentität. Verhalte dich moralisch – den eigenen Leuten gegenüber, das ist ein sehr gewichtiges Gebot.

Wollen Sie damit auch die tief sitzende Angst und Aggression Fremden gegenüber erklären.
Ja. Das Interessante dabei ist, dass die Aggression anderen Gruppen gegenüber meist geschürt wird, indem man Abscheu vor anderen erzeugt. Man nennt sie Parasiten, Gottlose, Untermenschen, Wilde. (...). So entstehen starke Feindbilder, zementiert durch elementare Aversion. (...).

(...)

weiterführende Literatur und Links:
The God Delusion by Richard Dawkins
Ethical Atheist
Der neurobiologische Ansatz

Freitag, 19. Januar 2007

Dienstag, 16. Januar 2007

Links zur Illustrierung von Einsatzrealitäten

abegglen: Einsatzrealitäten

MILES KOSMPOLITIS - Brevier für den kritisch urteilenden Soldaten
Stressresistenz (Foliensammlung)
Realeinsatzorientierte Ausbildung - der Paradigmenwechsel
Iraq Body Count
Combat Duty in Iraq and Afghanistan, Mental Health Problems, and Barriers to Care. The New England Journal of Medicine.
Achtung, fertig, Chaos! Facts
War in Iraq: Main Page, CNN (Statistiken)
Iraq Coalition Casualty Count
British military fatalities in Iraq
Iraq violence, in figures

Einsatzrealitäten

Welche Zeche muss der Soldat im Einsatz bezahlen? Die psychologischen Kosten des Tötens.

Jeder Soldat wird irgendwann zusammen- und jeder Verband wird irgendwann auseinanderbrechen
Jeder Soldat wird im Einsatz über kurz oder lang an Erschöpfungssymptome[1] leiden. Diese Erschöpfungssymptome manifestieren sich in mannigfaltigster Form. So sind Galgenhumor und Ticks durchaus Ausdrucksformen von Nervosität und eigener Überforderung. Ebenso sind Schlaflosigkeit oder nicht nachlassende Kopfschmerzen Anzeichen psychischer Erschöpfung. Erblindungs- und Lähmungserscheinungen extreme Formen davon. Sie sind allesamt Ausdrucksformen, so die Vermutung, einer psychischen Flucht vor der für den Soldaten nicht mehr erträglichen Einsatzrealität.
Kapitulation, Flucht, erhöhtes Risikoverhalten oder gar Suizid sind Formen physischer Flucht vor der grausamen Einsatzrealität.
Alkohol- und Drogenkonsum sind ebenfalls Ausdrucksformen psychischer Fluchtreaktion.[2] Im Einsatz wird sich dieser aus unterschiedlichen Gründen noch akzentuieren. Soldaten greifen nicht nur aus eigenem Antrieb zu Drogen und Alkohol, sondern erhalten diese Substanzen durchaus verschrieben. Zum therapeutischen Zweck wird die beruhigende Wirkung gezählt, um Angst zu überwinden oder um Schlaf zu finden. Die psychologische Funktion darf aber nicht unterschätzt werden. Gerade die gemeinsame Konsumation von Drogen und Alkohol kann durchaus als Bestätigungsritual der verschworenen Gruppe betrachtet werden. Gruppenmitglieder werden mitmachen, um eben dazu zu gehören. Alkohol- und Drogenkonsumation innerhalb der Gruppe ist nur eine Form der gruppennarzisstischen Selbstbestätigung unter vielen, deren facettenreiche Ausgestaltungsformen lediglich durch die Phantasie ihrer Gruppenmitglieder limitiert wird. Erst wenn jemand solche, oftmals erniedrigende, Initiationsrituale über sich ergehen gelassen hat, wird er als vollwertiges Gruppenmitglied akzeptiert.

Swank R. und Marchand W. (1946), Combat Neuroses: the Development of Combat Exhaustion. Archives of Neurology and Psychiatry, Vol. 55 in Holmes (1994), S. 214.

Diese Graphik veranschaulicht, welchen Verlauf die Einsatzeffektivität über die Einsatzdauer nimmt. Ein Soldat erzielt nach rund 20 bis 30 Tage seine maximale Einsatzeffizienz. In dieser Periode hat er gelernt, Chancen und Gefahren im Einsatz realistisch einzuschätzen. Er hat gelernt, worauf es im Einsatz wirklich ankommt. Denn Realität und persönliche Vorstellung, was Krieg sei und wie man sich im Gefecht verhalten werde, sind aufeinander geprallt.

Nach einer Anzahl von erfolgreichen Einsätzen stellt sich das Gefühl der Unbezwingbarkeit ein. Der Soldat wird vom Gefühl übermannt, dass nichts und niemand ihm etwas anhaben kann. Das ist die Periode der Selbstüberschätzung. Diese Periode ist geprägt von einer unrealistischen Einschätzung von Risiken und Gefahren. Erhöhtes Risikoverhalten, auch ausserhalb eigentlicher Feuergefechte, ist die Folge davon. So ist der Prozentanteil von Todesfällen ausserhalb eigentlicher Feuergefechte ein möglicher Indikator, um den Stand der Moral der Truppe im Einsatz abschätzen zu können.
Während im Vietnamkrieg 13 Prozent aller Toten US Soldaten nicht durch Feindkontakt starben, sondern aus diversen, anderen Gründen wie Verkehrsunfälle, Ertrinken, ungewollte Schussabgabe resp. Fehlmanipulationen, friendly fire, Suizid und Mord, beläuft sich dieser Anteil im Irakkrieg auf 22 Prozent.[3]

Eine Untersuchung von 2004 zeigt, mit welcher Einsatzrealität sich der amerikanische Soldat im Irak konfrontiert sieht.[4] So muss jeder dritte US Marines damit leben, im Einsatz Unbeteiligte getötet zu haben. 87 Prozent der US Marines müssen das Trauma verarbeiten, einen Kameraden verletzt, angeschossen oder verwundet gesehen zu haben. Jeder vierte US Marine musste miterleben, wie sein bester Kamerad, sein buddy, angeschossen wurde. Jeder Zehnte wurde selber angeschossen, überlebte aber dank seiner Schutzausrüstung. Als Resultat dieser Konfrontation von Einsatzrealität und gelebter Ausbildungspraxis wird jedem sechsten US Marine posttraumatische Belastungsstörung (Post-Traumatic Stress Disorder, PTSD[5]) attestiert.

Das Gefühl, den Umständen ausgeliefert, nicht selber Herr über das eigene Schicksal zu sein, verstärkt noch den psychischen Druck auf den Soldaten. So verstärken Immobilität, Untätigkeit und das Gefühl der Isolation den Stress. Stress verstärkend sind auch unklare oder gar keine Befehle Vorgesetzter. Denn dies signalisiert Unterstellten, dass die Führung die Situation nicht im Griff hat. Gegnerischem (Bogen-) Feuer ausgesetzt zu sein, ohne die Feuerquelle ausmachen oder bekämpfen zu können, ist höchst Nerven aufreibend und verlangt von jedem Verband höchste Disziplin und Kaltblütigkeit ab, damit dieser dann noch geschlossen agieren kann. [6]

Ein weiterer Stressverstärker[7] ist der Zerfall der eigenen Primärgruppe. Denn über die Dauer des Einsatzes sind Verluste durch psychische Ausfälle oder Ausfälle durch Tod oder Verletzungen unausweichlich. Verbände sind daher als ganze periodisch aus dem Einsatzumfeld herauszulösen, damit sie in einer Phase der Einsatznach- und Einsatzvorbereitung das Erlebte verarbeiten und Neuankömmlinge integrieren können.

Die Integration von frischen Soldaten in einen Verband braucht Zeit. Denn das gegenseitige Vertrauen in die Fähigkeiten der Alten und in diejenigen der Neuen kann nur mittels Verbandtraining erarbeitet werden. Diese Perioden der Erholung sind nicht nur für das Aufstocken der im Einsatz geleerten Reihen unabdingbar. Auch der akkumulierte Schlafmangel muss durch Phasen der Ruhe, abseits des Einsatzraumes und von Wachtaufgaben, kompensiert werden können.[8] Jeder Soldat wird irgendwann zusammen- und jeder Verband wird irgendwann auseinanderbrechen, falls nicht geeignete Ablöserhythmen Verbände geschlossen aus dem stressvollen Einsatzumfeld in eine sicherere Umgebung herauslösen.


Weiterführende Links zur Illustrierung


Einsatzrealitäten


[1] Holmes (1994), S. 265-269. Mögliche Erschöpfungssymptome sind: Nervosität, Befürchtungen, Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, Einschlafen, Erstarren, Verstummen, sich verstecken, Erblinden, Lähmung, Entrücktheit, sich totstellen.
[2] Holmes (1994), S. 251: 1971 präsentierte sich das Drogenkonsumverhalten im Vietnamkrieg wie folgt: 50.9% aller amerikanischen Soldaten haben Marihuana, 28.5% Heroin oder Opium und 30.8% haben andere bewusstseinsverändernde Drogen konsumiert.
[3] Holmes (1994), S. 191: Vietnam: 41‘853 gefallene US Soldaten plus 5‘540 (13%) Tote aus anderen Gründen (Verkehrsunfälle [1000 Tote], Ertrinken/Ersticken, ungewollte Schussabgabe, “accidental engagements“ [846 Tote; von “ungewollter Selbstzerstörung” bis hin zum “Totschlag”]; CNN, http://www.cnn.com/SPECIALS/2003/iraq/forces/casualties/2004.07.html zugegriffen am 23.12.2005: Irak: 1‘691 Tote US Soldaten plus 467 (22%) Tote aus anderen Gründen. Multipliziert man die Zahl der Toten mit dem Faktor 7.4, so erhält man die Zahl aller im Einsatz verwundeten US Soldaten: auf jeden Toten kommen sieben Verwundete.
Selbstredend ist, daß aufgrund der tiefen absoluten Zahl von rund 2100 gefallenen US Soldaten jeder Tote ausserhalb eines Gefechts eine grosse Auswirkung auf diesen prozentualen Anteil hat.
[4] Combat Duty in Iraq and Afghanistan, Mental Health Problems, and Barriers to Care. The New England Journal of Medicine, Vol. 351, No. 1, p. 13 – 22: Irak (2004): 17.1% leiden unter PTSD, 87% der Marines feuerten Waffen, 28% der Marines töteten Unbeteiligte, 87% haben Kameraden fallen sehen, 25% haben ihren “buddy“ angeschossen gesehen, 10% wurden selber getroffen, aber von der Schutzausrüstung gerettet.
[5] Leuten, die an posttraumatischer Belastungsstörung leiden, überkommt oft das Gefühl von Panik und Hilflosigkeit. Denn sie werden von ihren traumatischen Erlebnissen immer wieder heimgesucht, was schliesslich zu langwierigen Depressionen führt.
[6] Das Ausharren von gegnerischem Artilleriefeuer oder das Erwarten des angreifenden Gegners in Verteidigungsstellungen wird als Moment grösster Krise betrachtet. Denn der Soldat ist zu Untätigkeit gezwungen, muss die Aktion des Gegners abwarten und kann nicht aktiv ins Geschehen eingreifen. Erst die eigene Feuereröffnung und das aktive Bekämpfen des Gegners, oder wenigsten ein angeordneter Rückzug resp. Vorstoss, werden das Gefühl der Machtlosigkeit zerstreuen. Dabei wird ein Damm gebrochen: Der Soldat, der zuvor in die Rolle des Erduldenden gezwungen war, übernimmt die Rolle des Agierenden. Dieser Rollenwechsel ist von tiefgreifenden emotionalen Gefühlen begleitet. Denn erst gerade harrte er, seinem Schicksal untätig ausgeliefert, unter Todesangst aus. Und im nächsten Moment ist er der agierende, Tod bringende Allmächtige. Er wird vom Gejagten zum Jäger. Oftmals stellt sich dabei ein Rausch ein. Wie in Trance agiert der Soldat, schiesst sich Mut an und verfällt eventuell sogar einem Blutrausch. Ihn übermannt beim Töten ein Gefühl höchsten Glücks. Ein Glücksgefühl, das später, nach einer Zeit der Selbstreflexion, in ein Schuldgefühl mutieren wird. Denn beim Töten Glücksgefühle zu haben, kann moralisch ja nicht richtig sein.
[7] Holmes (1994), S. 232-233, 261, 264, 329: Stressverstärkende Faktoren sind: Immobilität und Untätigkeit, Gefühl der Isolation resp des Ausgeliefertseins, unklare resp. keine Befehle, schlechter Korpsgeist, Zerfall der Primärgruppe (durch Ausfälle), Diskrepanz zwischen Gruppennormen und Organisationsziel (fragging: Schätzungen nach sind bis zu 20% der gefallenen Offiziere in Vietnam durch die Hand eigener Soldaten gestorben. Dies wurde auch dem damals eingeführten Rotationssystem zugeschrieben).
[8] Holmes (1994), S. 124: Höchste Leistungsfähigkeit des Soldaten ist in der Regel zwischen 1200 und 2100, tiefste Leistungsfähigkeit ist in der Regel zwischen 0300 und 0600. Schlafmangel akkumuliert sich: nach 48h ohne Schlaf sind 12h, nach 96h ohne Schlaf sind 120h Ruhezeit notwendig, um sich zu erholen.

Montag, 15. Januar 2007

Miles Kosmopolitis - Zwei Chancen!

Viele beklagen sinkende Tauglichkeitsraten (nur um die 60% aller Wehrpflichtigen werden anlässlich der Aushebung als diensttauglich befunden und bis zu 20% des Anfangsbestands scheiden aus RS und Kaderschulen im Laufe der Zeit aus!), ohne sich die gestiegenen Anforderungen an den Wehrmann zu vergegenwärtigen. Vereinfachend werden dafür Ursachen in der narzisstischen Eigenverliebtheit der heutigen Nintendo- und MTV-Generation gesucht.
Gleichzeitig aber wird die Gesellschaftsschichten kittende Funktion der Schweizer Armee herauf beschworen, ohne sich über die Bedeutung und Folgerungen des xenophob klingenden, mancherorts vernommenen Spruch Rechenschaft abzulegen: "Als Helvetier ist man geboren – Schweizer wird man".

Armee: Xenophobe Segregation oder gesellschaftliche Klammer?
Das Argument, die Armee erfülle ihre Daseinsberechtigung als gesellschaftlich integrierender Faktor - sozusagen als gesellschaftliche Klammer – verliert jede Legitimation, solange kaum noch 50% der Wehrpflichtigen dieser Pflicht nachkommen und solange in der Schweiz niedergelassenen Ausländern der Wehrdienst verweigert wird. Damit wird vielmehr der Ausgrenzung als der sozialen Integration Vorschub geleistet.
MILES KOSMOPOLITIS eröffnet die Chance, die allgemeine Wehrpflicht auszuweiten: So könnte eine freiwillige Wehrpflicht für alle in der Schweiz wohnhaften Ausländer damit verbunden werden, dass nach einem erfolgreichen Auslandeinsatz, die Einbürgerung vereinfacht wird. Denn wer beweist besser als derjenige, welcher die "Schweizer Werte oder Interessen" mit seinem Leben zu verteidigen bereit ist, dass er "wert" ist, "Schweizer" zu sein und willens ist, sich in die Gesellschaft zu integrieren? Zudem liessen sich so die im Auslandeinsatz unabdingbaren Fremdsprach- aber auch Kulturkompetenzen - unserer "Ausländer" nutzen.

Instruktorenmangel? Ideenmangel!
Seit nunmehr rund 90 Jahren (seit General Wille d. Ä.) wird regelmässig der Instruktorenmangel in der Schweizer Armee beklagt, ohne es zu wagen, andere Wege als derjenige des Herabsetzens der Anforderungen an die Instruktorenkandidaten aufzuzeigen. So ist das Projekt der Militärschule [1] geboren worden, was in Tat und Wahrheit zu Teilen ein Zurück zum System A61 im Bereich der Instruktorenausbildung darstellt.

Wieso geht die Armee nicht den Weg, den viele multinationale Konzerne schon lange abgeschritten haben?

Der Schweiz grenzen Staaten an, die einerseits aufgrund der Einführung der Freiwilligkeit und/oder Reduzierung ihrer Streitkräfte und andererseits, die aufgrund intensiver Auslandeinsätze (overstretch) und wenig attraktiven Anstellungsverhältnisse, eine nicht zu verachtende Anzahl von Berufsoffizieren und –unteroffizieren herausschwemmen, die bereit wären, sofort ihren Dienst in der eigenen Armee zu quittieren, um für die im Vergleich so attraktiven Anstellungsbedingung in der Schweizer Armee tätig zu werden.
Unsere Nachbarländer leben nach denselben freiheitlich demokratischen Werten. Und ihre Soldaten werden nach diesen erzogen.
Die Idee des MILES KOSMOPOLITIS ermöglichte diesen Kameraden, diese freiheitlich demokratischen Werte unabhängig von der Nation, in Streitkräften ihrer Wahl, zu verteidigen. Nicht das Gewaltmonopol des Staates, sondern das Streitkräftemonopol ist aufzubrechen. Dies gereichte allen betroffenen Staaten zum Vorteil:
  • Know-how Transfer zwischen Streitkräften;
  • Vertrauensbildende Massnahmen und Förderung des kulturellen Verständnisses;
  • Grössere Zufriedenheit des Berufsmilitärs, da dieser nicht zwischen Militär als Berufung oder Zivilberuf entscheiden muss, sondern weitere Wege zur persönlichen Entfaltung finden kann;
  • Karrierenmuster werden bunter;
  • grössere Konkurrenz wird bessere Qualität beim Berufspersonal zur Folge haben;
  • einer Öffnung folgte eine transnationale Intensivierung des militärwissenschaftlichen Diskurs;
  • die multinationale Zusammenarbeit würde vereinfacht, da sie als natürlich verstanden ist;
  • Engagements im Ausland unterlägen einer besseren multinationalen Koordination und wären schon in ihrer Konzeption nachhaltig.

Was hindert uns daran? Die Streitkräfte der Vereinigten Königreichs Grossbritannien (UK Armed Forces Recruitment) und Australiens Streitkräfte werben öffentlich um Offiziere aus dem Commonwealth resp. aus dem Ausland.

Non Australian Citizen or Permanent Resident.If you are not an Australian Citizen or Permanent Resident, you will need to refer to the Overseas Enquirer Information for the Navy, Army and Air Force.
Please select from the following options to view Overseas Enquirer Information for entry into the Navy, Army or Air Force.
Navy Overseas Enquirer Information
Army Overseas Enquirer Information
Air Force Overseas Enquirer Information

[1] Militärschule für Zeitoffiziere ohne Maturität, die von ihren Lehrverbänden für die Ausbildung zum Berufsoffizier vorgesehen sind, absolvieren als Grundausbildung zuerst die einjährige Militärschule 1 und nach drei Jahren Einsatz die wiederum einjährige Militärschule 2. Nach Bestehen der gesamten Grundausbildung beginnen die Berufsoffiziere ihre Tätigkeit als Einheitsberufsoffizier oder als Klassenlehrer in Kaderschulen.


weiterführende Literatur:

Haltiner, Karl W., Wenger, W., Szvircsev, T., Würmli, S. (2006) Sicherheit 2006: Aussen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitische Meinungsbildung im Trend. Forschungsstelle für Sicherheitspolitik der ETH Zürich und Militärakademie an der ETH Zürich.
Haltiner, Karl W. (2006) Die "Frau Hauptmann" stirbt aus. Civitas, 9/10, S. 6-10.

Haltiner, Karl W.(2005) Bürgerheer wohin? Alternative Wehrformen in der aktuellen politischen Diskussion. Bulletin 2005 zur schweizerischen Sicherheitspolitik. S. 23-44.

Mantovani, M. (1997) Milizarmee oder Freiwilligenarmee? Vor dem Wendepunkt der öffentlichen Diskussion.


Immigranten - auch die Schweiz braucht sie!

8 Thesen zum Miles Kosmopolitis

These 1:
Eine Gesamtkonzeption kann nicht skizziert werden, solange keine einsichtige, da totale, Strategieformulierung seitens der strategischen Führung erfolgt ist. Diese muss erzwungen werden.

These 2:
Ohne die Disziplinierung durch eine totale Strategieformulierung gewinnen Partikulärinteressen Oberhand. Reformschritte und Rüstungsvorhaben sind nicht mehr nachvollziehbar und werden ausgebremst.

These 3:
Im Krieg inmitten Menschen, werden Gewaltbewältigungsinstrumente nach den Grundsätzen der Recht- und Verhältnismässigkeit eingesetzt. Vorgehensweisen dürfen sich dabei im Auslandeinsatz nicht von denjenigen im Inland differenzieren. So ist der Einsatz der Krisenbewältigungsmittel nicht einer Frage der Subsidiarität, sondern der Komplementarität im Rahmen einer operativen Planung. Streitkräfteeinsatz ist nicht als letztes Mittel anzusehen, sondern einfach als ein real existierendes politisches Mittel. Dabei ist auch ein höheres Eigenrisiko einzugehen. Denn Krieg ist letztlich immer ein Ringen zwischen menschlichen Willen.

These 4:
Die militärische Ausbildung darf sich nicht mehr isoliert auf Waffen- und Gerätehandwerk, Führungstechnik, Methodik und Taktik beschränken. Das Wozu und Wofür staatlich organisierte Gewalt angewendet wird, muss integraler Bestandteil der militärisch-staatsbürgerlichen Erziehung und Ausbildung werden. Hierzu ist militärwissenschaftliches Basiswissen und die Schulung des kritischen Urteilvermögens unabdingbar.

These 5:
Militärische Ausbildung und Erziehung – und letztlich auch die militärische Gewaltanwendung – müssen mit den zu verteidigenden Werten im Einklang stehen. Diese Werte müssen in allen Facetten militärischer Institutionen reflektiert sein.

These 6:
MILES KOSMOPOLITIS ist derjenige Soldat, der den tieferen Sinn seiner Gewaltanwendung durchdrungen hat und dadurch gewinnbringend im Rahmen der Auftragstaktik im Ringen um Willen zum Einsatz gebracht werden kann.

These 7:
MILES KOSMOPOLITIS eröffnet die Chance, die allgemeine Wehrpflicht auszuweiten: So könnte eine freiwillige Wehrpflicht für alle in der Schweiz wohnhaften Ausländer damit verbunden werden, dass nach einem erfolgreichen Auslandeinsatz, die Einbürgerung vereinfacht wird. Denn wer beweist besser als derjenige, welcher die "Schweizer Werte oder Interessen" mit seinem Leben zu verteidigen bereit ist, dass er "wert" ist, "Schweizer" zu sein? So liessen sich die im Auslandeinsatz unabdingbaren Fremdsprach- aber auch Kulturkompetenzen unserer "Ausländer" nutzen.


These 8:
Komplementäres Expertenwissen von Soldat, Gruppenführer, Zugführer, Kp Kdt, Bat Kdt, usw. müssen gezielt herausgeschält, getrennt geschult aber im Verband trainiert werden, damit Vertrauen, gewachsen durch gegenseitigen Respekt und Überzeugung von der jeweiligen Kompetenz, entstehen kann.

Montag, 8. Januar 2007

Subsidiärer Einsatz? Komplementärer Einsatz!

Begriff der Subsidiarität, Existenzsicherung, Raumsicherung, Verteidigung, Friedensförderung, … Wem obliegt die Einsatzverantwortung?



"Der Einsatz der Armee ist Sache des Bundes. Die Kantone können ihre Formationen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auf ihrem Gebiet einsetzen, wenn die Mittel der zivilen Behörden zur Abwehr schwerwiegender Bedrohungen der inneren Sicherheit nicht mehr ausreichen." (Bundesverfassung (1998), S. 16, Art. 58 Abs. 3)

Das Prinzip der Subsidiarität für Streitkräfteeinsatz im Innern ist hier verankert. Meiner Meinung nach wird sie den aktuellen Bedrohungsformen nicht mehr gerecht und hemmt zudem die Kooperation im Innern. Als Begründung dafür sind zwei Überlegungen anzuführen:

Erstens, auf der psychologischen Ebene, ist die Aussage, dass die Armee dann eingesetzt wird, "wenn die Mittel der zivilen Behörde zur Abwehr" nicht mehr ausreichen, ungeschickt. Denn sie suggeriert, dass die Armee als "Retter" in die Bresche springt, sobald z.B. die Polizei oder das GWK versagt hat. Dies fördert unter den Korps unbewusst ein Inferioritäts- resp. Superioritätsdenken, was schliesslich in Konkurrenzverhalten mündet. Auch hier ist eine Kultur des gegenseitigen Respekts zu etablieren, indem komplementäres Expertenwissen herausgearbeitet, gefördert und in gemeinsamen Übungen erlebt wird. Korps sollen sich nicht konkurrenzieren, sondern gegenseitig ergänzen!
Zweitens, heutige Bedrohung sind transnationaler Natur und lassen sich nicht national eigenständig lösen. Wie sollte dies dann auf kantonaler Ebene möglich sein? Müssen tatsächlich "schwerwiegende Bedrohungen der inneren Sicherheit" abgewehrt werden, dann wird dies wohl unweigerlich zu einer Bundesaufgabe. Und damit müsste wohl die politische Führung dem Bundesrat und die operative Führung dem Führungsstab der Armee (FSTA) zufallen.

Wäre das Begriffsverständnis in den Bereichen der strategischen, operativen und taktischen Ebene vereinheitlicht, so wäre es ein Einfaches einzusehen, an welchen Begriffen sich Sicherheitspolitiker und Militärexperten aufreiben.

Der Begriff der Subsidiarität muss als Einsatzprinzip und nicht als Einsatzform verstanden werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass nicht wie bis anhin die Faktoren Zeit, Verfügbarkeit und Durchhaltefähigkeit ziviler Ressourcen ausschlaggebend sind, um zu beurteilen, welche Mittel zu wessen Gunsten subsidiär eingesetzt werden sollen. Sondern einzig die Beurteilung der als besten geeigneten Mittel in ihren komplementären Einsatz und Vorgehensweisen im Rahmen einer operativen Planung soll sich dafür verantwortlich zeigen.

Es ist müssig, über kantonale und nationale Kompetenzen sowie über kantonale Polizei- und Militärhoheiten zu streiten, wenn es Sicherheitsprobleme zu lösen gilt, deren Wurzeln und Verästelung global im internationalen Umfeld zu finden sind. Die Erhöhung der Sicherheit, ohne dabei die in der Präambel der Bundesverfassung festgelegten Grundwerte[1] zu untergraben, ist der gemeinsame Zweck aller Gewaltbewältigungsinstrumente des Staates.

Erhalten Streitkräfte im Rahmen des Operationplans integrale Einsatz- und Raumverant-wortung, so bricht dort nicht eine Militärdiktatur aus. Einzig die in der Schweizer Armee schon im Rahmen subsidiärer Einsätzen etablierten Absprachen zwischen zivilen und militärischen Verantwortungsträger wechseln ihre Sitzpositionen: Während bei subsidiären Armeeeinsätzen der Bedarf an die zugewiesenen militärischen Truppenkommandanten von der zivilen Behörde herangetragen und dann in Absprachen gemeinsam der Truppeneinsatz geregelt wird, wird in einem Raum, wo Streitkräfte integrale Einsatz- und Raumverantwortung tragen, der Bedarf an zivilen Mitteln von den Truppenkommandanten an die zivile Behörde formuliert, um dann deren Einsatz in gemeinsamen Absprachen festzulegen.

Nicht nur der Militäreinsatz im Rahmen von Verteidigungsoperationen, sondern jeder Einsatz von irgendwelchen Mittel zum Zwecke der Interessenwahrung eines Staates (z.B. Bewahrung und Ausbau grösstmöglicher Freiheit staatlichen Handelns, Erreichen wirtschaftlichen Wachs-tums) ist ein Führungsakt der strategischen Ebene und Resultat deren (totalen) Strategieformulierung. Das Primat der Politik ist somit nicht exklusiv in Verteidigungsoperationen zuzuordnen, sondern gilt auch in Existenzsicherungs-, Raumsicherungs- und Friedensförderungsoperationen und ist somit allumfassend. Die Meinung, "nichtsubsidiäre" Einsätze folgten weniger diesem Prinzip, lassen befürchten, dass diese Einsätze einer eigenen Logik der taktischen Notwendigkeit gehorchten - also dann so etwas wie ein Primat der Taktik vorherrsche. Dieses Einsatzverständnis führt jedoch gezwungener Massen zu Aktionen, die zum Selbstzweck degenerieren, ohne ein operatives und dessen übergeordnetes, strategisches Ziel zu verfolgen.


[1] Bundesverfassung (1998), S. 5: Präambel: "Im Namen Gottes des Allmächtigen! Das Schweizervolk und die Kantone, inder Verantwortung gegenüber der Schöpfung, im Bestreben, den Bund zu erneuern, um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken, im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben, im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften und der Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen, gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen, geben sich folgende Verfassung: …".

Sonntag, 7. Januar 2007

Clausewitz' Dreifaltigkeitsthese

Der Kern

Clausewitz' Konzept des Absoluten Krieges[1] ist das Resultat des Versuchs, Krieg als Phänomen, das durch reine Logik und absoluter Vernunft durchdrungen ist, mit seiner tatsächlich Erscheinungsform zu kontrastieren. Für Clausewitz dient sein Konzept des Absoluten Kriegs einzig zum Herausschälen derjenigen Faktoren im Krieg, welche über Zeit und über Kulturkreis hinweg konstant zu bleiben scheinen - also die Natur des Krieges ausmachen. Er entdeckt dabei die Dreifaltigkeitsthese, des Krieges Hang zur Eskalation und die Friktion. Diese Thesen sollen als Theoriegerüst erklären helfen, welche Faktoren die Transformation des Krieges wirklich verursachen.

Folgender Schluss zieht Clausewitz:

"Der Krieg ist also nicht nur ein wahres Chamäleon, weil er in jedem konkreten Falle seine Natur etwas ändert, sondern er ist auch seinen Gesamterscheinungen nach in Beziehung auf die in ihm herrschenden Tendenzen eine wunderliche Dreifaltigkeit, zusammengesetzt aus der ursprünglichen Gewaltsamkeit seines Elementes, dem Hass und der Feindschaft, die wie ein blinder Naturtrieb anzusehen sind, aus dem Spiel der Wahrscheinlichkeiten und des Zufalls, die ihn zu einer freien Seelentätigkeit machen, und aus der untergeordneten Natur eines politischen Werkzeug, wodurch er dem blossen Verstande anheimfällt.
Die erste dieser drei Seiten ist mehr dem Volke, die zweite mehr dem Feldherrn und seinem Heer, die dritte mehr der Regierung zugewendet. Die Leidenschaften, welche im Kriege entbrennen sollen, müssen schon in den Völkern vorhanden sein; der Umfang, welchen das Spiel des Mutes und Talents im Reiche der Wahrscheinlichkeiten des Zufalls bekommen wird, hängt von der Eigentümlichkeit des Feldherrn und des Heeres ab, die politische Zwecke aber gehören der
Regierung allein an.
Diese drei Tendenzen … sind tief in der Natur des Gegenstandes begründet und zugleich von veränderlicher Grösse. Eine Theorie, welche eine derselben unberücksichtigt lassen oder zwischen ihnen ein willkürliches Verhältnis feststellen wollte, würde augenblicklich mit der Wirklichkeit in solchen Widerspruch geraten, dass sie dadurch allein schon wie vernichtet betrachtet werden müsste.
Die Aufgabe ist also, dass sich die Theorie zwischen diesen drei Tendenzen wie zwischen drei Anziehungspunkte schwebend erhalte."[2]

Bei der Erklärung dieser drei im Krieg inhärenten Tendenzen, unterscheidet Clausewitz drei Ebenen der Abstraktion.
Erstens, Krieg beinhaltet als Erscheinung zwischenmenschlichen Verkehrs urtümliche Gewalt, Hass und Feindschaft. Dies bildet die erste Tendenz. Die zweite Tendenz im Krieg ist, dass nichts gewiss ist und Entscheide aufgrund von Wahrscheinlichkeiten und Zufällen getroffen werden. Als dritte Tendenz ist Krieg als Werkzeug der Politik zu verstehen, das einem politischen Zweck zu dienen hat.

Zweitens, Clausewitz ordnet der ersten Tendenz den blinden Naturtrieb, der zweiten Tendenz die freie Seelentätigkeit - sprich kreativen Geist, und der dritten Tendenz den blossen Verstand zu.
Auf einer dritten Abstraktionsebene schreibt Clausewitz die erste Tendenz dem Volk, die zweiten den Streitkräften und die dritte Tendenz der Regierung zu. Er anerkennt jedoch, dass diese Zuweisung nicht exklusiv zu verstehen ist. Denn alle drei Tendenzen sind dem Menschen eigen, die ja das Volk, die Streitkräfte und auch die Regierung ausmachen. Clausewitz argumentiert nur, dass die eine oder andere Tendenz in der von ihm jeweils bestimmten Menschenkohorte besonders ausgeprägt ist.

Beim Beschrieb von drei Wechselwirkungen, die Krieg ins Extreme eskalieren lassen, impliziert Clausewitz ein vierte Abstraktionsebene: Wille - Mittel - Effort (Anstrengung).[3]

Diese vier Abstraktionsebenen lassen sich nun um zwei zusätzliche erweitern: Die Fünfte ist der Umstand, dass sich nach der Dreifaltigkeitthese ein Element für das Regieren durch Zielvorgaben verantwortlich zeichnet, dadurch sinnvermittelnd wirkt und so die Führung im Krieg übernimmt. Ein weiteres Element kämpft und ist somit der eigentliche Gewaltanwender. Die Unterstützung des Volks, so das dritte Element, ist schliesslich unabdingbar, damit Krieg nachhaltig finanziell, personell und moralisch unterhalten werden kann.
Die Verbindung kognitiver, emotioneller und manueller Erfahrung als pädagogisches Prinzip hat offensichtlich einen bleibenden Eindruck hinterlassen, als Clausewitz während seiner Zeit der Gefangenschaft (1806/7) in der Schweiz Johann Heinrich Pestalozzi in Yverdon besucht hat.[4] Denn Hirn, Herz und Hand sind klar als Leitmotiv in der Dreifaltigkeitsthese wieder zu erkennen und sollen hier als sechste Abstraktionsebene angeführt werden. Pestalozzis Lehren waren in Preussen sehr berühmt. Sie dienten schliesslich gar als Grundlage ihrer Schulreform.[5]

Dreifaltigkeit - sechs Abstraktionsebenen


Kritiker der Dreifaltigkeitsthese und Entdecker "neuer Kriege" resp. "moderner Kriege" fokussieren ihre Kritik meist auf Clausewitz' dritte Abstraktionsebene unter gleichzeitigem Ausblenden aller anderen fünf.[6] Doch gerade Clausewitz, trotz seines eigenen vom 19. Jahrhundert geprägten Weltbildes, verzichtet in seiner These auf moralische Kriterien. Ihm ist bewusst, dass die Art und Weise der Kriegführung sich über die Zeit (technologischer Wandel) und von Kultur zu Kultur verändern mag.[7] Er behauptet sogar, dass derselbe Krieg durch sein Fortdauern einer Transformation unterliegen wird. Die Dreifaltigkeitsthese besagt ja lediglich, dass in jedem Krieg naturgegeben drei Tendenzen innewohnen, die untereinander zwar agieren aber immer anders stark ausgeprägt sind. Nirgends werden Staatsformen, Militärorganisationen oder Zusammensetzung der Bevölkerung auf Nationen eingrenzend festgelegt. Mit anderen Worten: Ob das für den Griff zu den Waffen sinnstiftende Organ eine demokratisch gewählte Regierung oder charismatische Führer eines "Terror-" Netzwerkes ist, ob die Kämpfer uniformierte Angehörige staatlicher Streitkräfte oder Selbstmordattentäter sind, oder ob die Gewaltanwendung Unterstützung in einer Nation, in einem weltumspannenden Glaubenskreis oder in einer gewissen Sozialschicht findet, ist für die Clausewitz'sche Dreifaltigkeitthese gleichwertig. Unabdingbar bleibt für den Krieg jedoch die Unterstützung des Gros der Bevölkerung resp. der öffentliche Meinung.
Im Verständnis der Dreifaltigkeitsthese gibt es keine Differenzierung zwischen "Humanitäre Intervention", "War on Terror", "Befreiungskriege", "Peace Support Operations", "Low Intensity Conflicts", "Operations other than War", "Moderne Krieg", "Neue Kriege", "War for Freedom", "Friedensförderungsoperationen", "Existenzsicherungsoperationen", "Raumsicherungsoperationen", "Verteidigungs-operationen" … . Allesamt verkörpert nur eine spezifische Ausgestaltung von Krieg.

Anhand der Dreifaltigkeitsthese lassen sich auch verschieden Ansätze der erwünschten Wirkung des eigenen Vorgehens herausarbeiten. Wichtig bleibt aber immer, dass dabei die populäre Unterstützung dem Gegner entzogen wird und gleichzeitig sich diese zu unseren eigenen Gunsten verrückt. Denn Krieg, so erkennt Clausewitz, ist eine Form des zwischenmenschlichen Verkehrs.


[1] Clausewitz, Carl (1952), Vom Kriege (Bonn: Dümmlers), S. 94: Mit dem Konzept des Absoluten Krieges zeigt Clausewitz auf, wie drei Wechselwirkungen die Gewaltanwendung im Krieg theoretisch maximieren. Voraussetzungen hierzu sind, daß Krieg als isolierter Akt, urplötzlich, ohne innen- oder aussenpolitisches Vor- und Nachleben entstünde und daß das Ausfechten des Waffenganges keine Zeit bedürfte.
[2] Clausewitz (1952), S. 110-111
[3] Clausewitz, Carl (1989), On War, eds. and tr. Michael Howard, Peter Paret (Princeton: Princeton University Press), S. 75-77
[4] Smith, Mark K., Johann Heinrich Pestalozzi, http://www.infed.org/thinkers/et-pest.htm accessed 21 November 2002; Rosen (1997), Der pädagogische Clausewitz, http://www.aksow.de/Dateien/Mitglieder/Rosen/CLAUSEWI.pdf accessed 21 November 2002, S.15
[5] Stübig, Heinz, Die Rezeption Pestalozzis in Preussen im Spiegel neuerer Veröffentlichungen, http://www pestalozzi.hbi-stuttgart.de/forum/stuebig/stuebig.html accessed 21 November 2002; Rosen (1997), S.15
[6] Keegan, John (1993), A History of Warfare (London: Hutchinson), S. 391: Due to the increased lethality of modern warfare, especially through nuclear weapons, John Keegan perceives the Western way of warfare no more 'a continuation of politics by other means.' Van Creveld, Martin (1991), On Future War (London: Brassey's), S. 73: Martin Van Creveld criticises Clausewitz's worldview to be one that is too limited to his own time, a time when states with their armies were the only entities entitled to wage war for political aims. Today, however, 'the traditional distinction between peoples and armies is being broken down by new, nontrinitarian, forms of war collectively known as Low-Intensity Conflict.' Coker, Christopher (2002), Humane Warfare (London: Routledge), p 94: Christopher Coker contemplates post-military society in the age of profuse accessibility to information and its implication. Due to the abolishment of compulsory military service in most Western states, 'the relationship between the military, the state and the society … has once again become contractual as it was in the eighteenth century. And it is this development which marks a decisive break with the trinitarian system.'
[7] Clausewitz (1952), S. 860: Halbgebildete Tartaren, Republiken der alten Welt, Lehnsherren und Handelsstädte des Mittelalters, Könige des achtzehnten Jahrhunderts: alle führen den Krieg auf ihre Weise, führen ihn anders, mit anderen Mitteln und nach einem anderen Ziel.

Miles Kosmopolitis


"Wenn Kriege vorüber sind, bleiben immer auch Soldaten, welche die Schrecken es Krieges erlitten und verursacht haben. Wie geht die Gesellschaft mit ihnen um? … Der Mensch macht sich in bestimmten Situationen sowohl bei der Anwendung wie auch bei der Unterlassung von Gewalt schuldig und ist deshalb auf Vergebung angewiesen."[1]


Welchen Soldatentypen können wir als Gesellschaft verantworten und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Ausbildung? Wo liegen die Grenzen des soldatischen Gehorsams? Welche Konsequenzen müssen Soldaten bei offensichtlich rechtswidrigen Gewaltanwendungen ziehen? Können sie die Rechtmässigkeit ihrer Aufträge selber beurteilen?[2] Diese von Baumann aufgeworfenen Fragen sind nicht nur aus dem ethischen Gesichtspunkt zu beantworten, sondern zielen letztlich auf eine strategisch erfolgreiche Kriegführung ab.

Im 21. Jahrhundert kann vom Soldaten keine ungeteilte Loyalität gegenüber dem Staat mehr gefordert werden.
Staatlich sanktionierte Gewaltanwendung muss auch vom Soldaten im Spiegel öffentlicher Meinung und internationaler Abstützung in ihrer Rechtmässigkeit und Verhältnismässigkeit kritisch hinterfragt werden. Dieser Miles Kosmopolitis verteidigt schützenswerte Werte und Normen, die er in der Völkergemeinschaft verankert sieht. Diese Werte und Normen sind nicht territorial auf ein Land gebunden, sondern leben in ihrer Idee und laufen gleichzeitig immer wieder Gefahr, Opfer der eigenen Gewaltanwendung und dadurch verraten zu werden.[3]

Erziehung und Führung der Streitkräfte können nur zum Teil diesem Phänomen Rechung tragen, indem die Einsatzprinzipien der Rechtmässigkeit und Verhältnismässigkeit bei der Gewaltanwendung in der Militärkultur des Landes verankert werden. Dass der Streitkräfteeinsatz von der Völkergemeinschaft als gerecht betrachtet und legitimiert wird, ist aber Aufgabe der strategischen Führung mit ihrer totalen Strategieformulierung.

Die militärische Ausbildung darf sich nicht mehr isoliert auf Waffen- und Gerätehandwerk, Führungstechnik, Methodik und Taktik beschränken. Will man den geforderten neuen Soldatentyp heranziehen, so muss vor allem deren kritisches Urteilsvermögen geschärft werden, indem erstens offen dargelegt wird, welche ethischen Fragen mit Gewaltanwendung in Verbindung gebracht werden müssen; zweitens welcher Eigentümlichkeit die organisierte Gewaltanwendung auf individueller und gesellschaftlicher Ebene unterliegt und schliesslich drittens, mit welchen Folgen daraus auf individueller und gesellschaftlicher Ebene zu rechnen ist.
Art. 58 Abs. 2 der Bundesverfassung bestimmt für die Schweizer Armee folgenden Zweck:


"Die Armee dient der Kriegsverhinderung und trägt bei zur Erhaltung des Friedens; sie verteidigt das Land und seine Bevölkerung. Sie unterstützt die zivilen Behörden bei der Abwehr schwerwiegender Bedrohungen der inneren Sicherheit und bei der Bewältigung anderer ausserordentlichen Lagen. Das Gesetz kann weitere Aufgaben vorsehen."


Es bedarf zwingend einer Klärung, was heute unter "Krieg"(-sverhinderung) und "Verteidigung" von Land und Bevölkerung zu verstehen ist und wie dies zu erfolgen habe. Hier ist die strategische Führung gefordert und schuldet uns Soldaten eine stringente und einsichtige, da totale, Strategieformulierung. Wozu benötigt die Schweiz eine Armee? Diese Frage muss letztlich beantwortet werden. Manche Überlegungen dazu sind hier zusammengefasst, aber immer aus dem Blickwinkel eines Militärs und bedürfen daher sicherlich noch einer weiteren kontextuellen Vertiefung.


Weiterführende Links:
[1] Baumann, Dieter (2003), Aspekte zur Tradition des "gerechten Krieges". ASMZ, Nr. 6, S. 29-30.[2] Baumann (2003), S. 30.[3] Baumann, Dieter (2006), Gerechtigkeit und soldatische Tugend. ASMZ, Nr. 2, S. 4-5: "Eine universell gültige elementare Gerechtigkeit zeigt sich heute im Schutz der basic human needs and rights sowie der Förderung der weiteren Menschen- und Sozialrechte. Dazu braucht es im Interesse aller Staaten eine funktionierende internationale Rechtsordnung, Gerichtsbarkeit und eine tragende Solidargemeinschaft. Armeen sind in diesem Kontext Instrumente der Rechtserhaltung, Rechtsdurchsetzung sowie subsidiär der globalen Solidarität. Ihre Soldaten sind als kosmopolitische Staatsbürger in Uniform Schutzsoldaten des (inter-)nationalen Rechts mit einer soliden rechtlich-ethischen, staats- und sicherheitspolitischen Bildung. Die Ausbildung des soldatischen Ethos beziehungsweise Korpsgeistes hat über das soldatische Selbstverständnis als Vertreter des nationalen und internationalen Rechts zu geschehen." Vgl. hierzu auch Bachofner, Hans (2005), Wenn die Waffen sprechen, schweigen die Gesetze. ASMZ, Nr. 1, S. 4.
Spillmann, Kurt (2003), Nützt die Neutralität unserer Sicherheitspolitik noch?. ASMZ, Nr. 4, S. 29-30: "Die Schweiz muss von keinem Nachbarstaat einen Überfall befürchten. Es ist kein Szenario mehr vorstellbar, in dem die Schweiz zwischen Hegemonialrivalen zerquetscht würde. Die Schweiz ist umgeben von lauter Demokratien, die auf die gleichen Grundwerte aufbauen, die auch unserem Staatswesen zu Grunde liegen. … Im Integrationsprozess Europas zeigen sich Umrisse und die Basis einer neuen, kooperativen Welt, in der Gewalt nicht mehr unilateral, sondern nur noch polizeilich und multilateral ausgeübt werden soll, wie von der UNO-Charta vorgezeichnet. Da bilden sich die neuen Werte einer Welt des Rechts und der gemeinsam erarbeiteten Verhaltensregeln, von denen zu hoffen ist, dass sie sich gegen unilaterale und imperiale Tendenzen auf Dauer durchzusetzen vermögen."

Bilder des Krieges

Wie beeinflusst die Darstellung von Krieg unsere Vorstellung, was Krieg ist, welchen Rollenmodellen nachzueifern und wie der Soldat darauf vorzubereiten ist?



Paul[1] entwirft sieben wiederkehrende Bildmuster, wie Krieg dargestellt wird, die sich einem konventionellen, ideologischen und ästhetischen Ordnungssystem unterziehen. Jedem Bildmuster stellt er eine kontrastpublizistische Verstärkung anbei. Diese soll die Abgrenzung des "Wir" in Bezug zu den "Anderen", also eine Ingroup-Outgroup – Differenzierung, unterstreichen. Die zugrunde liegende These lautet, dass bestimmte Bildmuster des Krieges sich als archetypisch ins kollektive Gedächtnis übertragen. Einzelne Bilder können sogar bestimmte Kriege versinnbildlichen.

Moderne Bildmedien, so Pauls These, versuchen das katastrophisch antizivilisatorische Ereignis des Krieges zu einem zivilisatorischen Akt umzuformen, indem ihm eine Ordnungsstruktur verpasst wird.[2] Anbei sollen diese sieben wiederkehrenden Bildmuster in der Darstellung von Krieg als Überblick dargestellt werden.

1. Krieg als Bastion männlicher Bewährung und Verwirklichung;
2. Krieg als Betätigungsfeld des motivierten, professionellen, gut ausgebildeten Facharbeiters "Soldat";
3. Krieg als moderner Präzisionskrieg;
4. Krieg als Darstellung bürgerlicher Ordnungs-, Karitas- und Sauberkeitsvorstellung;
5. Krieg als ein mit höherem Sinn ausgestatteter Erlebnisurlaub;
6. Krieg als gigantische Sportveranstaltung und sportives Ereignis;
7. Krieg als Darstellung des eigenen, heroischen Opfermutes.
Sieben wiederkehrende Bildmuster mit einem konventionellen, ideologischen und ästhetischen Ordnungssystems nach Paul (2004).


Im ersten Bildmuster wird Krieg als Bastion männlicher Bewährung und Verwirklichung dargestellt. Bilder in denen Mut, Härte, Kaltblütigkeit, Tatendrang und das Zurückbinden eigener Interessen zugunsten der Primärgruppe als Eigenschaften positiv ins Licht gerückt werden. Als kontrastpublizistische Verstärkung wird die Gegenseite dagegen als hasenfüssig, hinterhältig, eigennützig, verweichlicht und effeminiert beschrieben. Der Gegner ist nicht Mann. Ihm wird sogar das Menschsein abgesprochen (Dehumanisierung). Er ist ein "Skinny", ein "Gook", ein "Kraut", eine Kakerlake und kann wie Ungeziefer emotionslos getilgt werden. Diese Indoktrinierung ist ein zweischneidiges Schwert. Denn die eigene Leistung wird dadurch ebenfalls herabgesetzt, weil es wohl nicht schwierig sein kann, gegen verweichlichte Angsthasen zu siegen. Der Erkenntnisschock wird lähmende Wirkung haben, wenn sich herausstellt, dass der Gegner tapfer, gerissen, todesmutig und opferbereit uns die Stirn bietet. Oder wenn in seinem Sterben, in seiner Agonie, in seinem roten, warmen Blut, in seinem Gedärme uns doch sein Menschsein offenbart - ein Menschsein mit gleichen Wünschen, Hoffnungen und Ängsten.

vgl. hierzu auch: General says marines saw Iraqi deaths as routine


Im zweiten Bildmuster wird der eigene Soldat als hoch motivierter, professioneller, gut ausgebildeter Facharbeiter präsentiert. Er geht in den Einsatz, um seinen Job zu verrichten. Dinge wie Politik, Gründe, wofür gekämpft werde, liegen ausserhalb der Sphäre seiner Fachkompetenz und werden anderen zur Beurteilung überlassen. Als verstärkender Kontrast hierzu wird der Gegner als undisziplinierter Haufen gekaufter Söldner oder als fanatische, einer Gehirnwäsche unterzogene Selbstmordattentäter karikiert.


Im dritten Bildmuster wird Krieg als moderner Präzisionskrieg stilisiert. Waffentechnologie wird vergötzt: Kampfjets bei Start und Landung, dahin breschende Panzer, tieffliegende und schwebende Helikopter oder Raketen beim Abschuss werden gezeigt. Krieg wird nur aus der Perspektive des Agierenden und nicht des Erleidenden gezeigt. Man sieht durch eine in der Waffe angebrachte Kamera, wie eine Bombe durch ein Fenster in ein Gebäude einfliegt. Auf einem Bildschirm erkennt man, wie Ziele punktgenau, in der charakteristisch grünlich schimmernden Darstellung von Infrarotkameras, bekämpft werden. "Chirurgische" Schläge werden auf "militärische Ziele" geführt. So wird das Todbringende mit etwas Heilsamen, mit einem medizinischen Eingriff, assoziiert. Krieg wird aseptisch, ohne Menschen, ohne zerfetzte Leichenteile, ohne karbonisierte Überreste, ohne Blut und Leid. Der allgegenwärtige, Ekel erregende Geruch von Kordit, Fäkalien, verbranntem Fleisch, geronnenes Blut, Innereien und Erbrochenem wird ausgeblendet. Die Erfassung gegnerischer Greueltaten wie Köpfungen, Leichenschändungen, Vergewaltigungen, Mutilation und Abschneiden von Genitalien und Brüste, … und indiskriminierenden Abschlachtens (z.B. mit Macheten) dient hier als kontrastpublizistische Verstärkung.


Im vierten wiederkehrenden Bildmuster wird Krieg entsprechend der bürgerlichen Ordnungs-, Karitas- und Sauberkeitsvorstellung dargestellt. So wird suggeriert, dass militärische Operationen vorausschauend geplant, nichts dem Zufall überlassen und einem Schweizer Uhrwerk gleich ablaufen würden. Verwundete werden von adrett gekleideten Pflegerinnen in klinisch sauberen Hospitälern liebevoll umsorgt. Soldaten werden bei kulturellen Tätigkeiten gezeigt: beim Besuch von Gottesdiensten, beim Briefeschreiben und Lesen, beim Musizieren und beim Sport und Spiel. Männliche Kameraderie verschworener Waffenbrüder wird zu einem Leitthema. Auch der Unterhalt von Waffe und Mensch wird in Szene gerückt: Soldaten beim Rasieren und Waschen oder bei der Reinigung von Waffen und Gerät. Der Gegner wird dagegen als verwahrlost, verdreckt und von Kameraden im Stich gelassen präsentiert. Das Vorgehen der Gegenseite wird als zusammenhanglose, unkoordinierte Terroraktionen einzelner verwirrter, menschenlebenverachtender Selbstmordattentäter resp. extremistischer Banden dargestellt.


Ein fünftes Bildmuster ist die Darstellung von Krieg als ein mit höherem Sinn ausgestatteter Erlebnisurlaub. Intakte, pittoreske Landschaften, das Exotische, fremde Völker und Kulturen dienen als Kulisse für wohlwollende, rettende militärische Intervention. Soldaten werden als Touristen mit Kameras auf Sightseeingtour abgelichtet. Der Gegner verfolgt, so in der kontrastpublizistischen Darstellung, eine Strategie der verbrannten Erde. Er hinterläßt eine Spur der Zerstörung und Verwüstung, ja wird gar zum Ökoterroristen.


Krieg als gigantische Sportveranstaltung und sportives Ereignis. Dies ist das sechste wiederkehrende Bildmuster. Soldaten stählern im Krafttraining ihre Körper, härten sich in der Vorbereitung ab und zelebrieren Teamgeist und Fairness mit Mannschaftsspielen wie Fussball, Rugby, Football oder Basketball. So wie sich bei Live-Reportagen im Sport ein militärisches Glossar eingebürgert hat, so wird auch Krieg immer stärker zum Live-Spektakel. Eingebettete Journalisten berichten in Echtzeit, ohne die notwendige Zeit zur Reflexion, von der Front. Soldaten werden gefilmt, wie sie eine Panzerabwehrlenkwaffe auf ein Gebäude abfeuern und die Fäuste bei einem Treffer ballen und jubelnd die Arme in die Luft recken. Jawohl! hit!, score!; maximale Punktzahl im Spiel! Die wachsende Entertainisierung des Krieges bedarf entsprechend einer unterhaltenden Dramaturgie: von einer verzweifelten Underdog-Situation zum Sieg des Guten über das Böse. Und schliesslich das Zelebrieren des Starken über den Unterlegenen. Als Kontrast hierzu wird ein Bild vom Gegner geschaffen, das diesen als einen unfairen, keine Spielregeln achtenden Einzelkämpfer skizziert. Der Gegner ist nur auf individueller Bereicherung bedacht. Er plündert, brandschatzt und vergewaltigt. Plünderung, Brandschatzung und Vergewaltigung dienen aber nicht nur der Befriedigung seiner niedrigen Triebe, sondern wird systematisch zur Terrorisierung angewendet.


Das siebente wiederkehrende Bildmuster ist die Darstellung des eigenen, heroischen Opfermutes. Dieser Opfermut wird mittels Symbolen und so verstärkt auf der emotionalen Ebene transportiert: Feldgottesdienst, ein Helm aufgesetzt auf einem mit dem Lauf in den Boden gerammten Sturmgewehr, Grabsteine, Nationalflagge, Ehrensalute, Fahne auf Halbmast, aufgebarte Särge; all dieses wird als Sinnbild für den eigenen Opfermut verwendet. Erschütternde Zermalmungsbilder von Kriegskrüppel oder gar eigene Leichen werden ausgeblendet. Anders dagegen verhält es sich bei der Darstellung der gegnerischen Verluste. Tote werden dort, wo sie gefallen sind, auf Bildern festgehalten und der Zustand ihrer Verstümmelung und Verwesung abgelichtet.


Der Mensch versucht im chaotischen Spektakel Krieg Sinn zu finden und ordnet seine Eindrücke nach den schon in ihm übergegangen Bildmustern. Bewusst oder unbewusst sucht er nach denjenigen Bildern, die er wieder zu erkennen scheint und die in seiner Vorstellung "Krieg" repräsentieren. Diese Bildmuster werden von Generation zu Generation überliefert und gehen von einem Medium ins andere über – sei es über Erzählungen, Literatur (Memoiren, Fiktion und Sachbücher), Gemälde, Photographien, Zeitungsberichte, Fernsehen, Kino und Videospiele. Die über diesen Mediencocktail ins kollektive Gedächtnis eingebrannten Bilder mutieren zu einer mentalen Wirklichkeit, wo sich Fiktion, Phantasie und Realität zu einer perzeptierten Wahrheit vermischen und so die eigene Wahrnehmung verzerren. Denn diese Bildmuster prägen unsere Vorstellung nachhaltig, nicht nur wie Krieg, sondern auch wie militärische Erziehung und Ausbildung sein sollten.
Insbesondere das Medium Film, das bewegte Farbbilder mit Ton kombiniert, birgt eine gewaltige emotionale Überzeugungskraft. Dramaturgie, digitale Tricktechnik, Musik, schnelle Schnittfolgen, die den zur Reflexion notwendigen Zeitraum rauben, Kameraführung und Geräuschkulisse, die an eine Live-Übertragung eines Berichterstatters erinnern, sind von enormer Authentizitätswirkung. So verwischen sich für den Betrachter die Grenzen von real Geschehenem zur Fiktion vollständig. Vorgespielte Rollenmodelle werden unkritisch übernommen. Filmausschnitte werden nachinszeniert, nicht nur im militärischen Trainingsalltag in Kasernen und auf dem Übungsgelände, sondern selbst im Einsatz. So halten Begrüssungsszenen, Verhaltensmuster und Lehrmethoden eines Drill-Sergeants aus den Filmen "Full Metal Jacket" oder "GI Jane" Einzug in Ausbildung und Initiationsritualen an Schulen der Schweizer Armee. Übungsanlagen, die das Durchsuchen von Gelände nach fiktiv abgeschossenen Piloten umfassen, muten an "Behind Enemy Lines", Orientierungslosmachen mittels über den Kopf gestülpten Jutesäcken und Verhörübungen erinnern an Bilder von irakischen Gefangenen und Folterszenen in Abu Ghraib, die 2004 um die Welt gingen.[3] Diese Parallelen lassen sich wohl beliebig ausweiten, von Erinnerungsphotos, worauf Züge das Filmplakat von "Band of Brothers" nachstellen, bis hin zu Gesten wie das Klopfen des voll abgespitzten Magazins am Helm vor dem Einsetzen ins Sturmgewehr.
Wie grotesk diese Vorfälle auch erscheinen mögen, die Grenze der Verantwortungslosigkeit wird dort überschritten, wo diese Ereignisse vom professionellen Korps stillschweigend geduldet oder gar mitinitiiert werden. Die Erscheinung der Nachinszenierung von Gesehenem ist sicherlich nicht ein Problem, das sich nur auf die Schweizer Armee eingrenzen lässt, sondern ist ein in allen Armeen weit verbreitetes Phänomen. Es sollte thematisiert anstatt einfach unter den Teppich gekehrt werden.[4] Denn spätestens im Einsatz trifft die eigene Vorstellungskraft auf die harte, unverhüllte Wirklichkeit. Je grösser die Diskrepanz zwischen der eigenen, im gegebenen Fall vielleicht sogar romantisch verklärten Phantasie, und der Einsatzrealität ist, desto grösser werden Erkenntnisschock und Desillusionierung der Kämpfer im Laufe des Einsatzes sein. Und je grösser Erkenntnisschock und Desillusionierung sind, desto rascher und höher wird die Rate der eigenen psychischen Ausfälle sein. Dies ist schliesslich der Grund, weshalb das Phänomen der unreflektierten Nachinszenierung in der Grund- und Führungsausbildung thematisiert werden muss.
Nicht nur Soldaten, sondern auch Journalisten unterliegen der Versuchung und reinszenieren durch ihre Sujetwahl oder gar mittels nachgestellten oder arrangierten Szenen Kriegsbilder. Redaktoren verfallen ebenfalls diesem Phänomen, wenn sie Texte und Bilder in vorauseilender Selbstzensur so redigieren, dass sie – ihrer Meinung nach – für den Konsumenten erträglich werden.


[1] Paul, Gerhard (2004), Bilder des Krieges - Krieg der Bilder: Die Visualisierung des modernen Krieges (Schweiz: Verlag Neue Zürcher Zeitung).
[2] Paul (2004), S. 11
[3] Fahmy, M. (2005), Griff zur Nebelpetarde. Facts, 12.05.2005, S. 46-49.
Fahmy, M., Rigendinger, B. (2005), Achtung, fertig, Chaos! Facts, 28.04.2005, S. 34-43.
[4] vgl. hierzu Baumann, Dieter (2005), Menschenwürde und Militär. ASMZ, Nr. 2, S. 13-14.

Samstag, 6. Januar 2007

Militärische Führungsausbildung – die Chance zum Paradigmenwechsel

Beim Start der neuen Schweizer Armee wurde die Laufbahn des Führers vom Geführten getrennt. Dieser Systemwechsel bietet die Chance des Paradigmenwechsels in der Führungsausbildung: neue Inhalte, neue Gewichtung, Ausweitung, Vertiefung, zeitliche Ausdehnung. Es wird möglich, eine neue militärische Chefgeneration heranzuziehen, welche die Armee als fester, einzusetzender Bestandteil des Instrumentariums einer ausgreifenden Sicherheitspolitik anerkennt.
Dieser Artikel geht der Frage nach, in welchen Bereichen ein solcher Paradigmenwechsel schon ab Beginn der Kaderlaufbahn stattfinden müsste.


1. Sinnvermittlung

Ist
Jeder bewaffnete Konflikt findet seinen Ausdruck im Zusammenwirken von drei Elementen: Unterstützung durch das Volk, Rationalisierung durch die Regierung, Kampfhandlungen durch die Streitkräfte (Dreifaltigkeitsthese von Clausewitz). In modernen Einsätzen hat die Omnipräsenz der Medien zur Folge, daß Handlungen eines jeden Soldaten sofort national und international auf die Verhältnis- und Rechtmäßigkeit hin beurteilt werden. Die öffentliche Meinung geht davon aus, daß in einem System von Befehl und Gehorsam wie in den Streitkräften jedes Handeln die Absicht aller Vorgesetzten bis hinauf zur strategischen Stufe widerspiegelt. Die Distanz zwischen der strategischen, operativen und taktischen Ebene schrumpft oder verschwindet. Wird dem bewaffneten Konflikt die nationale resp. internationale Unterstützung entzogen, wird sich dies unweigerlich auf das empfundene Einsatzsinnverständnis des Soldaten und somit auf dessen Einsatzmoral auswirken.

Soll
Um den System- in einen Paradigmenwechsel zu überführen, benötigt die Armee genügend weltoffene, innovative und motivierte Kaderanwärter, welche bereit sind, unter den oben genannten Bedingungen Verantwortung zu übernehmen. Die anstehenden globalen Gefahren und Risiken erfordern eine Strategie, welche die einengende nationale Sichtweise kritisch hinterfragt, der Armee als Gewaltbewältigungsinstrument eine glaubhafte Rolle zuweist und deren Soldaten die Weiterentwicklung zum Miles Kosmopolitis nicht versperrt.

Forderung
Um militärische Weiterausbildung wieder attraktiv zu machen, muss die Frage "wozu braucht die Schweiz eine Armee?" überzeugend beantwortet werden.


2. Trennung der Kompetenzen von Führern und Geführten

Ist
"Der Chef ist fachlich und methodisch der beste an Waffen und Geräten!" Diese Forderung bestimmt bisher unwidersprochen unsere Führungsausbildung. Waffenhandwerk ist sowohl Selektionsbedingung für Kaderanwärter wie auch später Bürge für deren Autorität. Verbandsleistungen scheitern meistens an der ungenügenden Führungsleistung der Kader, die man vor den Unterstellten mit getrennten Kaskadenübungsbesprechungen zu verheimlichen versucht.

Soll
Die Kompetenz des militärischen Führers zeigt sich im Verständnis der komplexen Zusammenhänge von Einsätzen (Bedrohungsbild, Einsatzzweck, psychologische und taktische Dimension, Verhältnis- und Rechtmässigkeit der Einsatzverfahren, …), im kritischen Urteilsvermögen, in Kenntnis und Anwendung der Führungstechniken (Problemerfassung, Entschlussfassung, Befehlsgebung, Steuerungsmassnahmen), sowie in der Fähigkeit, den eigenen Verband zu trainieren. Verbandsleistungen kommen nur dann zustande, wenn die Kompetenzen von Führer und Geführten klar voneinander getrennt, entwickelt, gedrillt, aber im Zusammenspiel gemeinsam trainiert werden. Nur so entsteht gegenseitige Wertschätzung für die Kompetenz des anderen als Basis für Vertrauen in die Leistungsbereitschaft des eigenen Verbandes.

Forderung
Der Systemwechsel muss genutzt werden, um militärische Führung während der ganzen verlängerten Kaderschule von Beginn an als Kernkompetenz des Chefs zu etablieren.


3. Ansprechen und Neugewichtung der psychologischen Dimension

Ist
Militär wird durch die romantische Brille des heroischen Kämpfers Hollywoods gesehen. "Spassfaktor" und "Erlebniswert" werden als Motivatoren eingesetzt. Einsatzübungen finden in der sterilen Umgebung von Ortkampfanlagen statt und Übungsbesprechungen reduzieren den Einsatz auf rein technische Aspekte. Die psychologischen Dimensionen moderner Einsätze werden weitgehend ausgeblendet.

Soll
Menschen sind keine Automaten, die man durch Waffendrill und Standardverhalten auf den Einsatz vorbereiten kann. Soldaten und Verbände müssen im Einsatztraining zwingend mit den chaotischen und psychisch anspruchsvollen Bedingungen eines Einsatzes konfrontiert werden, unter denen Führungs- und Verbandsleistungen erbracht werden müssen. Dazu gehören:

- Umgang mit dem Töten und mit Verlusten;
- Umgang mit Sieg und Niederlage;
- Umgang mit Rache und Sühne;
- Umgang mit der allgegenwärtigen Angst und Ungewissheit;
- Umgang mit Zivilisten und anderen Akteuren;
- Umgang mit wachsender resp. schwindender Unterstützung der Zivilbevölkerung;
- Umgang mit Verstössen gegen das Kriegsvölkerrecht;
- Umgang mit der Verhältnismässigkeit der eigenen Gewaltanwendung.

Forderung
Vor allem das Berufskader muss lernen, militärische Einsätze ab Beginn der Führungsausbildung in ihren ganzen psychologischen Dimension zu thematisieren und darzustellen. In der Schulung der Kader muss es gelingen, suggerierte Wahrheiten Hollywoods und standardisierte Ausbildung durch Ernsthaftigkeit und Sinnvermittlung zu ersetzen.


4. Chaosbewältigung

Ist
Der überwiegende Teil unserer Kader ist nicht in der Lage, komplexere Probleme souverän anzugehen und zu lösen. Diese Führungsschwäche konnte weder durch simplifizierende Standardverhalten (BUL) noch durch ausgeklügelte Controllinginstrumente ausgemerzt werden. Einsatzplanung wird gegenüber der Einsatzführung überbetont. Im Moment wird versucht, mit der zertifizierten Führungsausbildung der unteren Milizkader (FUM) eine Verbesserung im Führungsverhalten herbei zu führen.

Soll
Im modernen Bedrohungsumfeld ist Chaos und nicht lineare Gewalteskalation die Regel (Nebeneinander von symmetrischen und asymmetrischen Vorgehensweisen, fliessende Übergänge von einem Gewaltspektrum in ein anderes, Vielzahl von undurchsichtigen Akteuren, gleichzeitiger Einsatz von Krisenbewältigungsinstrumenten, zunehmender Einbezug der Zivilbevölkerung, Allgegenwärtigkeit der Medien). Das Bewältigen solcher komplexer Chaossituationen verlangt eine Schwergewichtsverlagerung von der Einsatzplanung zur Einsatzführung. Gleichzeitig muss ein Umdenken in der Methodik der Verbandsausbildung eingeleitet werden: Einsatzleistungen müssen ehrlicher beurteilt werden, um den Handlungsbedarf für sinnvolles Training aufzudecken. Jede zivil zertifizierte Führungsausbildung führt letztlich nur dann zu einer Verbesserung der militärischen Führungsleistung, wenn es ihr gelingt, den Transfer zu militärischen Einsätzen herzustellen.

Forderung
Das moderne Einsatzbild muss so verinnerlicht werden, dass der Transfer in anspruchvolle, realitätsnahe Kurzübungen möglich wird, welche es Verbänden erlauben, ihren Trainingsbedarf zu ermitteln.


5. Intuition

Ist
Intuition wird mit "unvorbereitet aus dem Ärmel schütteln" verwechselt. Dieser negative Beigeschmack entsteht, weil jedes Abweichen von Standardverhalten als Fehler beurteilt wird und damit Kreativität und Initiative zurückgebunden werden. Unter dem Deckmantel eines überfüllten Stoffplans (genauer gesagt der fehlenden Stoffpriorisierung) werden zu wenige Plattformen geschaffen, in denen Chefs ihr Talent zeigen und trainieren können.

Soll
Die strukturierte Wissensvermittlung über Führung verfolgt den Zweck, die eigene Führungsleistung permanent selbst kritisch hinterfragen, beurteilen und weiterentwickeln zu können. Sie muss darum ab Beginn parallel mit Führungserfahrung in Form von anspruchsvollen, realitätsnahen Einsatzübungen gepaart werden, in welchen insbesondere die psychologische Dimension der Führung erlebt werden kann. Mit fortschreitendem Lern- und Erfahrungsprozess muss es möglich sein, die von der Theorie bereit gestellten Gehhilfen den eigenen Bedürfnissen anzupassen, zu verändern oder sie gar neu zu entwickeln. Intuition wird so als "spontanes Anwenden von verinnerlichtem Wissen, welches auf reicher Erfahrung gründet" verstanden und erlebt. Das Erfolgserlebnis, Chaossituationen rasch ordnen und Absichten scheinbar mühelos weitergeben zu können, motiviert und führt selbstregulierend zu effizientem Verbandstraining.

Forderung
Führung darf nicht standardisiert und die Entwicklung von Talenten nicht durch Inflexibilität von Vorgesetzten behindert werden. Sie muss bereits im Lernprozess mit realistischer Trainingserfahrung gepaart werden.


Fazit
Das neue Laufbahnmodell unserer Armee bietet die Möglichkeit, die Führungsausbildung neu auszurichten. Der damit verbundene Paradigmawechsel wird zwar propagiert, ist aber mental noch nicht vollzogen. Sinnvermittlung, Trennung der Kernkompetenzen von Führer und Geführten, Neugewichtung der psychologischen Dimension, Schulung der Chaosbewältigung und Intuition durch verinnerlichtes Wissen sind mögliche Grundpfeiler einer Neuausrichtung der militärischen Führungsausbildung, welche nicht mehr nur den Mehrwert für die Privatwirtschaft, sondern vor allem das Einsatzgenügen unserer Armee anvisiert.


Weiterführende Links:
Bilder des Krieges


Kontaktadresse der Autoren:

Oberst i Gst Alex Reber
Berufsoffizier
email: reberalex@bluewin.ch

Maj i Gst Christoph M. V. Abegglen
Berufsoffizier
email: ch_abegglen@bluewin.ch


Veröffentlicht in der ASMZ, Nr 12, 2004

Nabelschau – oder eine Auseinandersetzung mit verschwiegenen Wahrheiten

Was Europa … lähmt, ist die nationale Lebenslüge seiner intellektuellen Eliten. Diese beklagen die gesichtslose Europabürokratie oder den Abschied von der Demokratie und gehen dabei stillschweigend von der völlig irrealen Annahme aus, es gäbe ein Zurück zur nationalstaatlichen Idylle."
Beck, Ulrich (2004). Der kosmopolitische Blick – oder: Krieg ist Frieden. (Frankfurt: Suhrkamp). S. 261.
Der folgende Artikel ist der Versuch, verschwiegene Wahrheiten offenzulegen, über die sonst nur hinter vorgehaltener Hand und in Selbstzensur gesprochen wird und die eine unvoreingenommene Auseinandersetzung mit der Transformation der Schweizer Armee verhindern. Er beabsichtigt, dadurch zu jenem Nullpunkt zu gelangen, von dem aus es möglich ist, Visionen zu formulieren und diesen in machbaren Schritten entgegen zu schreiten. Er will verhindern, dass man der Gefahr eines vorweggenommenen Konsenses erliegt, der sich nur am Hier und Heute orientiert, oder welcher der eigenen Propaganda verfällt und damit ein verklärtes Vergangenheitsbild heraufbeschwört.


Verschwiegene Wahrheit Nr. 1: Loyalität hat Grenzen
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold? Loyalität heisst nicht Schweigen!
Gehorsam und Loyalität finden nicht nur dort ihre Grenzen, wo Demokratie und Rechtstaatlichkeit untergraben werden, sondern auch dort, wo offenkundig nicht mehr Sachgeschäfte im Zentrum aller Tatkraft stehen, sondern Gärtchen geschaffen werden, in denen man im stillen Einverständnis Karrieren sät, Nichtangriffspakte schliesst und darüber nachdenkt, wie Querdenker mundtot gemacht werden können. Unzulänglichkeiten sind offenzulegen, auch wenn dies personelle Folgen nach sich zieht. Dilettantismus in militärischen Sachen führt in Echteinsätzen unweigerlich zu Niederlagen und eigenen Verlusten, die zu vermeiden gewesen wären.

Verschwiegene Wahrheit Nr. 2: Nicht Armee- sondern Staatskrise
Die Orientierungslosigkeit in der Militärpolitik als isoliertes Phänomen zu betrachten, verleugnet die Tatsache, dass die Armee nur in gegenseitiger Verstrickung mit allen anderen Politikbereichen zu verstehen ist. Die aktuelle Krise in unserer Armee legt somit lediglich eine umfassendere, alle anderen Politikbereiche umfassende und seit langem schwelende Staatskrise offen:

"Wo das, was ewig und sicher schien, in Bewegung gerät, werden die guten, alten
Wahrheiten um so militanter herausgeputzt. … . Während sich die europäischen
Nationalstaaten verflechten, absorbieren, kombinieren, synthetisieren, regiert die nationale Imagination mehr denn je in den Köpfen, wird zu einem sentimentalen Gespenst, zu einer rhetorischen Gewohnheit, in der die Verängstigten und Ratlosen Zuflucht und Zukunft suchen."
Beck, Ulrich (2004). Der kosmopolitische Blick – oder: Krieg ist Frieden. (Frankfurt: Suhrkamp). S. 261.

Verschwiegene Wahrheit Nr. 3: Eine isolierte Schweiz braucht keine Armee
"Jeder Staat hat eine Armee: entweder die eigene oder eine fremde." Diese Maxime genügt heute als Rechtfertigung nicht mehr und ist Ausdruck eines nationalstaatlichen Selbstverständnisses, das längst der Vergangenheit angehört. Eine Armee aufrechtzuerhalten, nur weil sie gefühlsmässig zum Image des sicheren Bankenplatzes Schweiz beiträgt, ist zu einfach. Die anstehenden Probleme der Schweiz sind untrennbar national und global miteinander verstrickt und können nur in einer Gesamtschau aller Politikbereiche angegangen werden, in welcher strategische Ziele formuliert und auch der Armee ihre Aufgaben zugewiesen werden. Wenn Streitkräfte heute nicht mithelfen, globale Risiken und Bedrohungen zu bewältigen, drohen sie zum Gardisten und somit zu Prunk und Symbol der nationalen Eigenstaatlichkeit zu verkümmern. Sie verlieren somit ihre Funktion als Gewaltbewältiger und damit ihre Daseinsberechtigung oder sie werden mit subsidiären Aufträgen und unrealistischen Verteidigungsaufträgen am Leben erhalten. So gesehen braucht ein Sonderfall Schweiz keine Armee, ein der Völkergemeinschaft verpflichteter und in dieser seine Interessen wahrnehmender Kleinstaat hingegen schon.


Verschwiegene Wahrheit Nr. 4: Das Bedrohungsbild
Das Bedrohungsbild war noch nie so greifbar wie heute. Während im Kalten Krieg die Bedrohungsbilder aus Reglementen und Manöverbildern abgeleitet werden mussten, genügt es heute, sich täglich die Tagesschau am Fernseher anzusehen. Was früher nur von Experten erklärt werden konnte, ist heute für jedermann leicht zugänglich. Warum war es möglich, im Kalten Krieg Panzerabwehrschlachten zu trainieren, ohne deren Eintretenswahrscheinlichkeit für die Schweiz in Frage zu stellen? Warum ist es heute nicht möglich, das viel konkretere Bedrohungsbild im Training zu thematisieren, welches überall auf der Welt in blutigen Auseinandersetzungen erlitten wird? Warum sind wir im vergangenen Worst-Case-Szenario des Kalten Kriegs stecken geblieben? Ist es vielleicht so, dass wir Panzerabwehrschlachten trainieren, weil diese so weit weg von jeder Realität sind, dass sie in die Sphäre des virtuellen Spiels verbannt werden können und somit trainierbar werden, ohne politisch Stellung beziehen zu müssen? Ist es vielleicht so, dass wir in die Sphäre der Subsidiarität flüchten, weil wir dadurch der Armee keine klaren militärischen Aufträge im Konzert aller anderen Politbereiche geben müssen und weiterhin behaupten können, dass unser Land im Herzen Europas immer nur die Auswirkungen der globalen Bedrohung zu bewältigen habe, nicht aber selber deren Ziel werden könnte?


Verschwiegene Wahrheit Nr. 5: Die Schweizerische Neutralität
Neutralität und die damit verbundene Neutralitätspolitik sind das Produkt einer Westfälischen Weltanschauung, die im Zeitalter globaler Interdependenzen und Gefahren der Realität nicht mehr gerecht wird. Der Neutralitätsgedanke als übermächtiger alles bestimmender Faktor einer umfassenden Strategieformulierung ist unweise, ein Schweizerischer Nimbus und dient nur noch der nationalen Identifikation. Zur Lösung der wachsenden globalen Risiken trägt er jedoch nichts bei. Um grösstmögliche staatliche Handlungsfreiheit zu wahren, müssen Staaten kooperieren, internationale Regeln aushandeln und entsprechende Kontrollregime international durchsetzen.


Verschwiegene Wahrheit Nr. 6: Die Kernkompetenz Verteidigung
Das Wort Verteidigung assoziiert Bunker- und Igelmentalität sowie Bewahrung des Status Quo. Indem der Akt der Verteidigung nur im eigenen Staat und ab Landesgrenze vollzogen wird, wird eine Opferrolle suggeriert, welche der Schweiz den Status des moralischen Sauberlands zuspricht (man darf, weil man dazu gezwungen wurde). Der Gegner wird an der Landesgrenze abgewartet und anschliessend im Duell mit einer Strategie der Sprengobjekte und der verbrannten Erde in die Knie gezwungen ("lieber tot als rot").
Das Wort Verteidigung hat in der Schweiz die taktisch / militärische Bedeutung verlassen und wurde im Rahmen der geistigen Landesverteidigung in die Sphäre der sicherheitspolitischen Dimensionen und Dogmen gehoben. Es verwehrt heute jeden kosmopolitischen Blick und damit jede Weiterentwicklung einer Schweiz, die doch in ihrer Geschichte seit jeher erkannt hat, dass Kooperation das machtmaximierende Vorgehen ist (egoistischer Altruismus): So verbündeten sich Talschaften zu Schutz- und Trutzbünden (Eidgenossenschaft), im Ersten und Zweiten Weltkrieg wurden Geheimabsprachen mit Nachbarstaaten geführt und im Kalten Krieg profitierte die Schweiz vom atomaren Schild der USA resp. NATO. Jeder erkennt heute, dass eine symmetrisch geführte territoriale Nationalverteidigung ab Landesgrenze in unserem dicht überbauten Gebiet unsere Lebensgrundlagen zerstört, welche es eigentlich zu schützen gilt.


Verschwiegene Wahrheit Nr. 7: Die allgemeine Wehrpflicht
Die allgemeine Wehrpflicht ist nicht die integrierende gesellschaftliche Klammer, wie dies die geistige Landesverteidigung suggerierte, sondern ist lediglich Garant für eine hochwertige Rekrutierungsbasis. Nur aufgrund der Tatsache, dass kaum 60% aller Wehrpflichtigen diensttauglich sind, auf diese Rekrutierungsbasis zu verzichten, ohne gleichzeitig zu wissen, wohin sich diese Armee und die Schweiz bewegen, ist fahrlässig. Es gibt genügend Beispiele von Staaten, welche zu Berufs- oder Freiwilligenarmeen gewechselt haben und dabei erheblich Einbussen in der Qualität ihrer Soldaten und Kader hinnehmen mussten. Wieso sollte es gerade der Schweizer Armee gelingen, diesen Transformationsprozess besser zum Erfolg zu führen?


Verschwiegene Wahrheit Nr. 8: Das Primat der Politik
Das Primat der Politik ist nicht dem Diktat und Mikromanagement von Politikern gleich zu setzen, sondern ist Zeugnis einer durchdachten, alle Politikbereiche umfassenden Strategieformulierung, an welcher sich die Akteure der operativen Stufe orientieren. Das Primat der Politik existiert nicht nur für Armeeangelegenheiten, sondern durchdringt alle Politikbereiche und deren Koordination bezüglich der Interessen unseres Landes.
Das alles entwaffnende Argument "es ist politisch nicht durchsetzbar" oder "ich kann dies meinen Wählern nicht zumuten" muss ersetzt werden durch klare sicherheitspolitische Vorgaben, welche den militärischen Experten dazu zwingen, machbare, auf die Gesamtstrategie abgestimmte Varianten aufzuzeigen. Dies kann aber nur in einem Klima gegenseitiger Wertschätzung geschehen, in dem sich der militärische Experte bezüglich strategischem Fachwissen und Beharrlichkeit deutlich vom Politiker unterscheidet, dessen militärisches Wissen sich auf eigene Erlebnisse aus seiner Milizdienstzeit beschränkt. Nur so wird es möglich, in Zukunft zu verhindern, dass beispielsweise Rüstungsprogramme zu Fall gebracht werden, nur weil sie aufgrund der fehlenden Gesamtstrategie als militärische Wunschliste in einem politischen Vorgabenvakuum entstanden sind.


Verschwiegene Wahrheit Nr. 9: Subsidiarität
Subsidiarität ist keine militärische Einsatzform, sondern ein Einsatzprinzip. Es regelt das Zusammenspiel verschiedener Mittel im Einsatz und deren Einsatzverantwortung. Subsidiarität hat weder etwas mit Gewalt unterhalb der Kriegsschwelle zu tun, noch bezieht sie sich einseitig auf die Armee. Ob zivile oder militärische Chefs die Einsatzverantwortung tragen, hängt vom jeweiligen Gewaltumfeld, von Operationsplan und Leistungsprofilen der eingesetzten Mittel ab. Die Reduktion unserer Armeeeinsätze auf die beiden Kategorien "tiefes Gewaltspektrum gleich subsidiär" und "hohes Gewaltspektrum gleich Krieg" ist fahrlässig. Tatsache ist, dass der Übergang von einem Gewaltspektrum in ein anderes fliessend ist und lokal gleichzeitig unterschiedliche Eskalationsstufen möglich sind. Gewaltbewältigung lässt sich heute nicht mehr kategorisieren. Es ist die operative Führung, die entscheidet, wer wem subsidiär zugewiesen ist und wo und ob unsere Armee gleichzeitig subsidiär und mit eigenständigen Aufträgen eingesetzt wird. "Helm auf, Krieg beginnt!" gehört ebenso definitiv in die Archive der Geschichte wie die Behauptung, es gebe eine alte, symmetrische Form der Kriegführung und eine neue, asymmetrische Variante.


Verschwiegene Wahrheit Nr. 10: 52 : 2 = 26 genügt nicht
Wie viele Infanteriebataillone braucht die Schweizer Armee, damit AMBA CENTRO über das ganze Jahr hinweg sicher gestellt werden kann? Eine Armeeplanung auf dieses Gedankenspiel zu reduzieren, welches mit Schwergewicht nur aktuelle, subsidiäre Armeeeinsätze im Inland in Betracht zieht, ist verantwortungslos. Es müssen vielmehr die globalen Risiken und Bedrohungen mit ihren möglichen Auswirkungen auf das sozioökonomische Gefüge der Schweiz verstanden werden, damit Wirkung und Zusammenspiel der Gewaltbewältigungsinstrumente in einem Interessenkonflikt vorausgedacht werden können. Erst dann kann man, gestützt auf unsere spezifische kulturelle Erfahrung, die Gegenwart so beeinflussen, dass sich Organisation, Ausbildung und Ausrüstung unserer Armee auf die Zukunft ausrichten. Auf jeden Fall ist zu vermeiden, dass wir uns auf einen Interessenkonflikt der Vergangenheit mit Mitteln von gestern vorbereiten oder gar vergangene Erfolge nachäffen, ohne den veränderten Umständen Rechnung zu tragen.


Verschwiegene Wahrheit Nr. 11: Miles Kosmopolitis
Der Miles Kosmopolitis ist Realität. Im 21. Jahrhundert kann vom Soldaten keine ungeteilte Loyalität gegenüber dem Staat mehr gefordert werden. Staatlich sanktionierte Gewaltanwendung wird auch vom Soldaten im Spiegel öffentlicher Meinung und internationaler Abstützung in ihrer Rechtmässigkeit und Verhältnismässigkeit kritisch hinterfragt. Die Entwicklung dieses neuen Soldatentypen, der schützenswerte Werte und Normen in der Völkergemeinschaft verankert sieht, ist anderswo voll im Gang. Sie wird in der Schweiz behindert durch die selbst auferlegte Einschränkung des mythisch verklärten Neutralitäts- und Verteidigungsverständnisses, durch die Zerrissenheit der Schweizer Politik und die Kunst des Schweigens. Es wäre wünschenswert, wenn der Schweizer Soldat mindestens den Schritt vom Vernichter hin zum Miles Protector[1] machen würde, zu einem Soldaten also, der Schutz als seine Aufgabe begreift und damit wenigstens die Regeln der Verhältnis- und Rechtmässigkeit verinnerlichen müsste. Dieser Miles Protector ist zwingend Voraussetzung für eine spätere Weiterentwicklung zum Miles Kosmopolitis.


Verschwiegene Wahrheit Nr. 12: Armee und Wirtschaft
Die Armee ist kein Betrieb, den man nach rein marktwirtschaftlichen Grundsätzen führen kann. Der Versuch, Parallelen zu einem zivilen Unternehmen zu suchen, führt unweigerlich zur Ausblendung der Einsatzrealität und bleibt immer bei der Ausbildungsorganisation stecken. Welche andere Organisation ausser Streitkräften nimmt die Vernichtung ihrer eigenen Produktionsfaktoren bewusst in Kauf, um die erhaltenen Aufträge zu verwirklichen?


Verschwiegene Wahrheit Nr. 13: Professionalität
Professionalität ist mehr als das Nachgehen einer Vollzeitbeschäftigung. Der Profi ist als einer zu verstehen, der einem höheren Zweck im Dienste der Gesellschaft dient. Er besitzt ein spezifisches Wissen und Können und ist in der Lage, dieses in grössere Zusammenhänge einzubringen, was ihm und seinem Berufstand die Wertschätzung der Gesellschaft sichert.[2]
In unserer Armee mangelt es nicht an der Anzahl von Berufs- resp. Zeitmilitär, sondern an deren Qualität und Professionalität. Diese Tatsache verhindert eine Weiterentwicklung der Armee und ist primär auf die folgenden acht Punkte zurückzuführen:

Haupttriebfeder für die Berufswahl sind gute Bezahlung und Sicherheit. Mit der Möglichkeit von Echteinsätzen wird der Berufsmilitär nur ungenügend konfrontiert. Damit entwickelt sich eine klagende Gewerkschaftermentalität, welche das Tagesgeschäft mit Echteinsatz verwechselt.
Der Berufsmilitär befasst sich zuwenig mit dem Soldatenbild, was die psychologische Auseinandersetzung mit der Realität dieses Berufes verhindert. Der Berufsmilitär unterscheidet sich bezüglich Können zu wenig von der Miliz. Der Berufsmilitär versteht sich primär als Lehrer in Uniform. Die Ausbildung ist das Mass aller Dinge. Unter "Front" wird die Tätigkeit an der Rekrutenschule verstanden. Dieses verheerende Selbstbild des "Kiesgrubeninstruktors" vermittelt den Irrglauben, dass zur Ausübung dieses Berufes keine akademische Ausbildung notwendig sei.
Die in unsere Armee weit verbreitete Ansicht, dass der Führer dieselben fachtechnischen Kompetenzen wie der Geführte zu besitzen habe, führt zu einer undifferenzierten Überbetonung der technischen Ausbildung (maître d'arme).
Daraus resultiert eine ungenügende Führungsausbildung für den Berufsmilitär.
Die gelebte Kultur der falschen oder fehlenden Massstäbe sowie der vorbereiteten Inspektionen führt zu Mittelmass, gegenseitigem Betrügen und Verlust der Berufsethik.
Die fehlende sicherheitspolitische Konzeption verhindert Wertschätzung und die Möglichkeit, das militärische Expertenwissen nutzbringend einzubringen.


Verschwiegene Wahrheit Nr. 14: Führungsausbildung
Die militärische Führungsausbildung schult zuwenig das kritische Urteilsvermögen. Standards, Behelfe und Eselsleitern beschneiden Logik und Kreativität unter dem Deckmantel "im Einsatzstress ist nur das Einfachste gut genug". Noch immer steht das Training im Bereich der Einsatzplanung in einem Missverhältnis zum Training der Einsatzführung. Problemerfassung im Chaos, Entschlussfassung unter Zeitdruck, Steuerung einer Aktion oder permanentes Entwickeln von Sofortmassnahmen und Eventualplanungen sind die erfolgsrelevanten Faktoren der Führung im Einsatz. Sie sind gleichzeitig die Schwächen des Miliz- und Berufskaders.
Die Kunst der Führung liegt in der Fähigkeit, komplexe Situationen auf einen Blick zu erfassen und zu ordnen. Dieser Vorgang erfolgt im Chaos scheinbar intuitiv, ist aber das Ergebnis eines selbstverständlichen intellektuellen Prozesses, welcher auf reicher Erfahrung gründet."
(Regl Einsatz der Infanteriekompanie)


Fazit
Die aktuelle Staatskrise muss als Chance genutzt werden, um eine Kultur der Ehrlichkeit zu etablieren. Reden statt Schweigen ist gefragt. Eigentlich brauchen wir für die Schweiz als isolierten Staat keine Armee, für eine der Völkergemeinschaft verpflichtete Schweiz hingegen schon. Wir müssen lernen, Bedrohungen im globalen Zusammenhang zu erkennen und diesen in einer umfassenden Strategie zubegegnen. Die Armee ist ein Teil des zur Verfügung stehenden Instrumentariums. Um eine Armee zu organisieren, braucht es das Verständnis der sozioökonomischen Zusammenhänge im eigenen Land im Zusammenspiel mit der internationalen Völkergemeinschaft. Die militärwissenschaftliche Erziehung und Ausbildung der Berufsmilitärs hat oberste Priorität: Weg vom Hobby, hin zur Profession. Die Schweiz ist nicht als Sonderfall zu betrachten, nicht als moralisches Sauberland hinzustellen, sondern als normaler Kleinstaat in einer real existierenden Welt zu sehen.

Kontaktadresse der Autoren:

Oberst i Gst Alex Reber
Berufsoffizier
email:
reberalex@bluewin.ch

Maj i Gst Christoph M. V. Abegglen
Berufsoffizier
email:
ch_abegglen@bluewin.ch


Veröffentlicht in einer Sonderbeilage der ASMZ, Oktober 2004


[1] Däniker, Gustav (1992). Wende Golfkrieg: Vom Wesen und Gebrauch künftiger Streitkräfte.
(Frauenfeld: Huber Verlag).
[2] Huntington, S. P. (1957). The Soldier and the State - The Theory and Politics of Civil-Military Relations. (New York: Vintage Books).