Samstag, 6. Januar 2007

Militärische Führungsausbildung – die Chance zum Paradigmenwechsel

Beim Start der neuen Schweizer Armee wurde die Laufbahn des Führers vom Geführten getrennt. Dieser Systemwechsel bietet die Chance des Paradigmenwechsels in der Führungsausbildung: neue Inhalte, neue Gewichtung, Ausweitung, Vertiefung, zeitliche Ausdehnung. Es wird möglich, eine neue militärische Chefgeneration heranzuziehen, welche die Armee als fester, einzusetzender Bestandteil des Instrumentariums einer ausgreifenden Sicherheitspolitik anerkennt.
Dieser Artikel geht der Frage nach, in welchen Bereichen ein solcher Paradigmenwechsel schon ab Beginn der Kaderlaufbahn stattfinden müsste.


1. Sinnvermittlung

Ist
Jeder bewaffnete Konflikt findet seinen Ausdruck im Zusammenwirken von drei Elementen: Unterstützung durch das Volk, Rationalisierung durch die Regierung, Kampfhandlungen durch die Streitkräfte (Dreifaltigkeitsthese von Clausewitz). In modernen Einsätzen hat die Omnipräsenz der Medien zur Folge, daß Handlungen eines jeden Soldaten sofort national und international auf die Verhältnis- und Rechtmäßigkeit hin beurteilt werden. Die öffentliche Meinung geht davon aus, daß in einem System von Befehl und Gehorsam wie in den Streitkräften jedes Handeln die Absicht aller Vorgesetzten bis hinauf zur strategischen Stufe widerspiegelt. Die Distanz zwischen der strategischen, operativen und taktischen Ebene schrumpft oder verschwindet. Wird dem bewaffneten Konflikt die nationale resp. internationale Unterstützung entzogen, wird sich dies unweigerlich auf das empfundene Einsatzsinnverständnis des Soldaten und somit auf dessen Einsatzmoral auswirken.

Soll
Um den System- in einen Paradigmenwechsel zu überführen, benötigt die Armee genügend weltoffene, innovative und motivierte Kaderanwärter, welche bereit sind, unter den oben genannten Bedingungen Verantwortung zu übernehmen. Die anstehenden globalen Gefahren und Risiken erfordern eine Strategie, welche die einengende nationale Sichtweise kritisch hinterfragt, der Armee als Gewaltbewältigungsinstrument eine glaubhafte Rolle zuweist und deren Soldaten die Weiterentwicklung zum Miles Kosmopolitis nicht versperrt.

Forderung
Um militärische Weiterausbildung wieder attraktiv zu machen, muss die Frage "wozu braucht die Schweiz eine Armee?" überzeugend beantwortet werden.


2. Trennung der Kompetenzen von Führern und Geführten

Ist
"Der Chef ist fachlich und methodisch der beste an Waffen und Geräten!" Diese Forderung bestimmt bisher unwidersprochen unsere Führungsausbildung. Waffenhandwerk ist sowohl Selektionsbedingung für Kaderanwärter wie auch später Bürge für deren Autorität. Verbandsleistungen scheitern meistens an der ungenügenden Führungsleistung der Kader, die man vor den Unterstellten mit getrennten Kaskadenübungsbesprechungen zu verheimlichen versucht.

Soll
Die Kompetenz des militärischen Führers zeigt sich im Verständnis der komplexen Zusammenhänge von Einsätzen (Bedrohungsbild, Einsatzzweck, psychologische und taktische Dimension, Verhältnis- und Rechtmässigkeit der Einsatzverfahren, …), im kritischen Urteilsvermögen, in Kenntnis und Anwendung der Führungstechniken (Problemerfassung, Entschlussfassung, Befehlsgebung, Steuerungsmassnahmen), sowie in der Fähigkeit, den eigenen Verband zu trainieren. Verbandsleistungen kommen nur dann zustande, wenn die Kompetenzen von Führer und Geführten klar voneinander getrennt, entwickelt, gedrillt, aber im Zusammenspiel gemeinsam trainiert werden. Nur so entsteht gegenseitige Wertschätzung für die Kompetenz des anderen als Basis für Vertrauen in die Leistungsbereitschaft des eigenen Verbandes.

Forderung
Der Systemwechsel muss genutzt werden, um militärische Führung während der ganzen verlängerten Kaderschule von Beginn an als Kernkompetenz des Chefs zu etablieren.


3. Ansprechen und Neugewichtung der psychologischen Dimension

Ist
Militär wird durch die romantische Brille des heroischen Kämpfers Hollywoods gesehen. "Spassfaktor" und "Erlebniswert" werden als Motivatoren eingesetzt. Einsatzübungen finden in der sterilen Umgebung von Ortkampfanlagen statt und Übungsbesprechungen reduzieren den Einsatz auf rein technische Aspekte. Die psychologischen Dimensionen moderner Einsätze werden weitgehend ausgeblendet.

Soll
Menschen sind keine Automaten, die man durch Waffendrill und Standardverhalten auf den Einsatz vorbereiten kann. Soldaten und Verbände müssen im Einsatztraining zwingend mit den chaotischen und psychisch anspruchsvollen Bedingungen eines Einsatzes konfrontiert werden, unter denen Führungs- und Verbandsleistungen erbracht werden müssen. Dazu gehören:

- Umgang mit dem Töten und mit Verlusten;
- Umgang mit Sieg und Niederlage;
- Umgang mit Rache und Sühne;
- Umgang mit der allgegenwärtigen Angst und Ungewissheit;
- Umgang mit Zivilisten und anderen Akteuren;
- Umgang mit wachsender resp. schwindender Unterstützung der Zivilbevölkerung;
- Umgang mit Verstössen gegen das Kriegsvölkerrecht;
- Umgang mit der Verhältnismässigkeit der eigenen Gewaltanwendung.

Forderung
Vor allem das Berufskader muss lernen, militärische Einsätze ab Beginn der Führungsausbildung in ihren ganzen psychologischen Dimension zu thematisieren und darzustellen. In der Schulung der Kader muss es gelingen, suggerierte Wahrheiten Hollywoods und standardisierte Ausbildung durch Ernsthaftigkeit und Sinnvermittlung zu ersetzen.


4. Chaosbewältigung

Ist
Der überwiegende Teil unserer Kader ist nicht in der Lage, komplexere Probleme souverän anzugehen und zu lösen. Diese Führungsschwäche konnte weder durch simplifizierende Standardverhalten (BUL) noch durch ausgeklügelte Controllinginstrumente ausgemerzt werden. Einsatzplanung wird gegenüber der Einsatzführung überbetont. Im Moment wird versucht, mit der zertifizierten Führungsausbildung der unteren Milizkader (FUM) eine Verbesserung im Führungsverhalten herbei zu führen.

Soll
Im modernen Bedrohungsumfeld ist Chaos und nicht lineare Gewalteskalation die Regel (Nebeneinander von symmetrischen und asymmetrischen Vorgehensweisen, fliessende Übergänge von einem Gewaltspektrum in ein anderes, Vielzahl von undurchsichtigen Akteuren, gleichzeitiger Einsatz von Krisenbewältigungsinstrumenten, zunehmender Einbezug der Zivilbevölkerung, Allgegenwärtigkeit der Medien). Das Bewältigen solcher komplexer Chaossituationen verlangt eine Schwergewichtsverlagerung von der Einsatzplanung zur Einsatzführung. Gleichzeitig muss ein Umdenken in der Methodik der Verbandsausbildung eingeleitet werden: Einsatzleistungen müssen ehrlicher beurteilt werden, um den Handlungsbedarf für sinnvolles Training aufzudecken. Jede zivil zertifizierte Führungsausbildung führt letztlich nur dann zu einer Verbesserung der militärischen Führungsleistung, wenn es ihr gelingt, den Transfer zu militärischen Einsätzen herzustellen.

Forderung
Das moderne Einsatzbild muss so verinnerlicht werden, dass der Transfer in anspruchvolle, realitätsnahe Kurzübungen möglich wird, welche es Verbänden erlauben, ihren Trainingsbedarf zu ermitteln.


5. Intuition

Ist
Intuition wird mit "unvorbereitet aus dem Ärmel schütteln" verwechselt. Dieser negative Beigeschmack entsteht, weil jedes Abweichen von Standardverhalten als Fehler beurteilt wird und damit Kreativität und Initiative zurückgebunden werden. Unter dem Deckmantel eines überfüllten Stoffplans (genauer gesagt der fehlenden Stoffpriorisierung) werden zu wenige Plattformen geschaffen, in denen Chefs ihr Talent zeigen und trainieren können.

Soll
Die strukturierte Wissensvermittlung über Führung verfolgt den Zweck, die eigene Führungsleistung permanent selbst kritisch hinterfragen, beurteilen und weiterentwickeln zu können. Sie muss darum ab Beginn parallel mit Führungserfahrung in Form von anspruchsvollen, realitätsnahen Einsatzübungen gepaart werden, in welchen insbesondere die psychologische Dimension der Führung erlebt werden kann. Mit fortschreitendem Lern- und Erfahrungsprozess muss es möglich sein, die von der Theorie bereit gestellten Gehhilfen den eigenen Bedürfnissen anzupassen, zu verändern oder sie gar neu zu entwickeln. Intuition wird so als "spontanes Anwenden von verinnerlichtem Wissen, welches auf reicher Erfahrung gründet" verstanden und erlebt. Das Erfolgserlebnis, Chaossituationen rasch ordnen und Absichten scheinbar mühelos weitergeben zu können, motiviert und führt selbstregulierend zu effizientem Verbandstraining.

Forderung
Führung darf nicht standardisiert und die Entwicklung von Talenten nicht durch Inflexibilität von Vorgesetzten behindert werden. Sie muss bereits im Lernprozess mit realistischer Trainingserfahrung gepaart werden.


Fazit
Das neue Laufbahnmodell unserer Armee bietet die Möglichkeit, die Führungsausbildung neu auszurichten. Der damit verbundene Paradigmawechsel wird zwar propagiert, ist aber mental noch nicht vollzogen. Sinnvermittlung, Trennung der Kernkompetenzen von Führer und Geführten, Neugewichtung der psychologischen Dimension, Schulung der Chaosbewältigung und Intuition durch verinnerlichtes Wissen sind mögliche Grundpfeiler einer Neuausrichtung der militärischen Führungsausbildung, welche nicht mehr nur den Mehrwert für die Privatwirtschaft, sondern vor allem das Einsatzgenügen unserer Armee anvisiert.


Weiterführende Links:
Bilder des Krieges


Kontaktadresse der Autoren:

Oberst i Gst Alex Reber
Berufsoffizier
email: reberalex@bluewin.ch

Maj i Gst Christoph M. V. Abegglen
Berufsoffizier
email: ch_abegglen@bluewin.ch


Veröffentlicht in der ASMZ, Nr 12, 2004

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